Die "chemische Revolution" brachte tausende neue Substanzen hervor (Symbolbild) - diese gelangten in Umwelt, Trinkwasser und Nahrungskette. Der US-Biologe David Crews untersucht die epigenetischen Auswirkungen von Fremdstoffen.

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Austin/Wien - Vor etwa 70 Jahren fing sie an: die "chemische Revolution", die tausende neue Substanzen hervorbrachte. Leider gelangten auch immer mehr davon in Umwelt, Trinkwasser und Nahrungskette. "Jedes menschliche Wesen auf dem Planeten trägt eine solche Last mit sich herum", betont der US-Biologe David Crews im Standard-Gespräch. Und am stärksten betroffen sind wohl die Bewohner der technisch hochentwickelten Industrienationen.

Crews, der an der University of Texas in Austin tätig ist, befasst sich mit einem besonderen Aspekt der chemischen Umweltbelastung. Er untersucht die epigenetischen Auswirkungen von Fremdstoffen. Einige Substanzen haben nämlich nicht nur direkten Störeinfluss, etwa auf den Hormonhaushalt, sie greifen auch das Erbgut an, und zwar ohne Mutationen auszulösen. Sie legen zum Beispiel ganze Gene lahm oder beeinflussen genetische Prozesse. Die Chemikalien ändern nicht das genetische Material selbst, sondern die Kontrollmechanismen, welche die Genom-Aktivität regulieren. Mit weitreichenden Folgen, denn die epigenetischen Modifikationen sind offenbar vererbbar.

Komplexer Einfluss früherer Belastungen

Wie komplex der Einfluss früherer Belastungen sein kann, haben Crews und sein Team zusammen mit Kollegen der Washington State University in einem Experiment nachgewiesen. Die Biologen brachten trächtige Rattenweibchen mit einem Fungizid in Kontakt und züchteten den kontaminierten Nachwuchs weiter. Männliche Tiere der dritten Generation wurden starkem Stress ausgesetzt und danach Verhaltenstests unterzogen. Anschließend analysierten die Forscher Gewebeproben aus dem Gehirn der Nager. Zur Kontrolle führte man dieselben Versuche mit unbelasteten Ratten durch.

Die Experimente zielten darauf ab, die Auswirkungen von akuten Störeinflüssen wie Stress und epigenetischer Prägung parallel zu untersuchen, erklärt Crews. "Im realen Leben sind schließlich beide vorhanden." Die Versuche brachten viele Unterschiede zwischen epigenetisch vorbelasteten und normalen Tieren ans Licht. Erstere zeigten deutlich andere Stressreaktionen. Die unter Stress gesetzten und von dem Fungizid geprägten Nager benahmen sich fremden Artgenossen gegenüber wenig neugierig, und sie waren in unbekannten Situationen erregter als Ratten ohne Erblast.

Hinweise auf veränderten Stoffwechsel

In den Gehirnen der untersuchten Tiere wurden Hinweise auf einen veränderten Stoffwechsel gefunden, der sich sowohl auf Stressbelastung als auch auf die chemische Kontamination der Urgroßmütter zurückführen lässt.

Der Kontakt mit den Schadstoffen hat offenbar einen starken und dauerhaften Einfluss, sagt Crews. "Wir haben einen komplett anderen Tiertypus geschaffen." Diesbezüglich gab es noch ein weiteres, überraschendes und stressunabhängiges Ergebnis: Die epigenetisch vorbelasteten Nager nahmen viel stärker zu.

Der Gewichtsunterschied betrug im Vergleich zu unbehandelten Ratten bis zu 30 Gramm. Vielleicht, sagt der Biologe, liegt hier ein Grund für die Zunahme von psychischen Störungen und für die Adipositas-Epidemien, die es in Industriestaaten gibt. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 22.5.2012)