Blicke der Zuneigung und der wachsenden Entfremdung vom Leben: Emmanuelle Riva und Jean-Louis Trintignant in Hanekes "Amour".

Foto: Filmfestival Cannes
Foto: Filmfestival Cannes

Von einem der ganz Großen des französischen Kinos, von Jean-Louis Trintignant, hieß es anlässlich seines 80. Geburtstags vor zwei Jahren, er hätte sich endgültig vom Film zurückgezogen und würde sich nunmehr auf Theater und gelegentliche Lesungen beschränken. Michael Haneke gelang es dennoch, ihn für Amour, seinen ersten Film nach dem Gewinn der Goldenen Palme mit Das weiße Band, zu einer Rolle zu überreden - schon deshalb galt der Film nicht nur in Cannes als mit Spannung erwarteter Coup.

Es ist ein Part geworden, der Trintignant wie auch seiner kongenialen Partnerin in dieser Arbeit, Emmanuelle Riva, einiges an Courage abverlangt, denn Amour beschäftigt sich wie noch wenige Filme davor mit dem langsamen Verfall, dem Sterben im Alter. Die erste Szene, in der eine Wohnungstür von der Polizei geöffnet werden muss, macht den Ausgang dieser Geschichte eines unausweichlichen Endes evident: Anne liegt tot in einem blumengeschmückten Bett. In der Luft hängt der Gestank von Verwesung.

Den Weg dorthin rekonstruiert Haneke mit der Präzision eines erfahrenen Meisters, in charakteristisch streng kadrierten Bildern und einer flüssigen Montage. Die kühle Form ist dem Geschehen in diesem Fall besonders angemessen, eine Haltung des Respekts angesichts einer Intimität, vor der sich dieser Film nicht verschließen kann - es auch gar nicht will. Georges und Anne sehen wir nur in einer Szene zu Beginn öffentlich, als Teil des Publikums eines Konzerts; der Rest des Films ist ein Kammerspiel in ihrer Wohnung - der kultivierte Lebensbereich eines bürgerlichen Paares, das sich seine Liebe im Alter bewahrt hat. Die Blicke, die diese beiden Menschen einander immer wieder zuwerfen, erzählen die eigentliche Geschichte des Films.

Den Krankheitsverlauf entwirft Haneke in kleineren Ellipsen. Anne wirkt fallweise abwesend, dann erleidet sie einen Schlaganfall und bleibt halbseitig gelähmt. Das Miteinander des Paares ist plötzlich wie durch die Anwesenheit eines Dritten gestört: die Ahnung des nahen Todes. Außenstehende, selbst die eigene Tochter Eva (Isabelle Huppert), erlangen keinen Zutritt mehr in dieses Feld; die Welt schrumpft zur Wohnung, in der die beiden nicht nur physisch gefordert sind. Die Frage nach der angemessenen Ethik im Umgang mit Sterbenden ist in Amour natürlich bis zum dramatischen Finale, das noch für Diskussionen sorgen wird, ganz zentral. Das Kunststück dieses Films, in dem jeder Ton, jede Geste stimmt, ist es jedoch, dass er nie thesenhaft wirkt. Die Bilder sind Ausdruck von Gefühlslagen, die Riva und Trintignant in reichhaltigen Schattierungen einbringen.

Panik der Endlichkeit

Keinen Moment lang verirrt sich hier jemand in Sentimentalitäten: Selbst als Anne einmal im Fotoalbum blättert und von der Schönheit des Lebens spricht, gibt Georges' Blick bloß eine tiefe Verunsicherung, ja Panik wider.

Wenige andere Regisseure konnten bisher in dem eher schwächelnden Wettbewerb so überzeugen wie Haneke. Der Rumäne Cristian Mungiu, der mit 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage 2007 in Cannes gewonnen hat, entwirft ein sich in viele Detailbeobachtungen verzweigendes Drama um zwei Frauen in einem christlich-orthodoxen Kloster, von denen eine zu Gott gefunden hat, die andere aber noch immer ihre Freundin liebt. Der technisch ausgereifte Naturalismus Mungius greift hier allerdings zu kurz, fügt er dem allzu vorhersehbaren Geschehen einer beständig anwachsenden kollektiven Hysterie doch wenig Substanzielles hinzu.

Auch von Lawless, einem Prohibitionsdrama des Australiers John Hillcoats in den Bergen Virginias, hat man sich mehr erwartet. Die so stolzen wie unnachgiebigen Bondurant-Brüder (Tom Hardy und ein überforderter Shia LaBeouf) brennen ihren Alkohol illegal und wollen sich auch dem neuen FBI-Agenten (Guy Pearce) nicht fügen. Was Lawless an Übersichtlichkeit und stilistischer Einheitlichkeit vermissen lässt, versucht er über übersteuerte Gewaltszenen auszugleichen. Die bringen zumindest das Drama wieder auf Kurs.

Einerlei, in Cannes ist ja noch nicht einmal Halbzeit. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes/DER STANDARD, 21.5. 2012)