"Stillleben" von Sebastian Meise.

Foto: Stadtkino

Wien - Sven, ein junger Deutscher, hat ein Geheimnis. Er liebt Jungen. Sie sind eigentlich gar nicht so viel jünger als er, aber zwischen ihnen verläuft eine Grenze, die nicht zuletzt durch das Gesetz festgelegt ist. Es gibt ein Schutzalter, das alle Beteiligten erreicht haben müssen, damit sexuelle Begegnungen zulässig sind. Das ist eine Festlegung, die den individuellen Umständen nicht immer perfekt Rechnung tragen mag, doch sie zeigt auf, dass es hier um eine allgemeine und nicht nur um eine persönliche Frage geht.

Der Schutz der kindlichen Sexualität und das Verbot des Inzests liegen nahe beisammen, sie bilden einen Problemkern menschlicher Gesellschaft seit den frühesten Tabubildungen. Und als ginge es um eine Untersuchung dieses Pro blemkerns in unserer Gegenwart, hat der Regisseur Sebastian Meise fast gleichzeitig zwei Filme gemacht, die so viel wie möglich davon in den Blick zu bekommen versuchen.

Outing (Ko-Regie: Thomas Reider) ist ein Dokumentarfilm, in dem Sven sein Geheimnis lüftet. Stillleben ist ein Spielfilm, in dem eine Familie mit einem Geheimnis konfrontiert wird. Die Filme kommentieren einander, bilden den seltenen Fall eines reflexiven "Double Features", in dem es auch entscheidend um Fragen der Erzählbarkeit des Illegitimen geht.

An Outing verblüfft zuerst einmal der Freimut, mit dem Sven von sich erzählt. Er erzählt, wie er einen "Basketballjungen" auf einem Spielplatz verehrt, ihn heimlich fotografiert hat, wie er generell immer wieder den Kontakt zu Kindern sucht und auch findet, und wie er versucht, dabei selbst die Grenze zu finden, die ihm durchaus bewusst ist. Doch es zeigt sich auch, dass er diese Grenze hinausschiebt - ist das unbemerkte Fotografieren nicht schon eine Verletzung der Schutzzone?

Im Gespräch mit einem älteren Mann wird deutlich, welche Belastung auch für die potenziellen "Täter" in ihrer sexuellen Prägung liegt. Und als schließlich auch noch Svens Familie Stellung nimmt, wird der nicht therapierbare Rest erkennbar, der in der Identität selbst liegt. Sven wäre nicht mehr er selbst ohne dieses Begehren. Gefängnis, Kastration, all die Varianten, die das Ressentiment für ihn bereithält, sind längst in seinen eigenen Gedanken präsent. Er versucht sich selbst einzusperren in einer Lebensform, in der er sich kleine Spielräume zu nehmen versucht, ohne dass er jemanden zu Schaden kommen lassen würde.

Modellhafte Geschichte

In dem Spielfilm Stillleben steht ein Familienvater im Mittelpunkt, der gut und gern als der ältere Gesprächspartner aus Outing erscheinen könnte. Doch dies ist eine erfundene Geschichte, erfunden auf Grundlage langer Recherchen, aus denen auch Outing hervorgegangen ist, und damit so "erfunden", wie eine modellhafte Geschichte eben fiktiv ist und doch von der Wirklichkeit gedeckt. Dieser Mann sucht in Wien eine Prostituierte auf, mit der er einen inzestuösen Verkehr mit seiner Tochter "spielt" oder "nachspielt". Durch Zufall erfährt sein Sohn Bernhard davon und löst in seiner Verstörung in der Familie ein Drama aus, das nicht zuletzt dadurch an Schärfe gewinnt, dass es eine eigentlich glückliche Familie ist, die hier zerbricht.

Wie in Outing steht auch in Stillleben die Schwelle zwischen ausgelebter und eingehegter Sexualität im Zentrum. Bernhard geht unwillkürlich davon aus, dass sein Vater sich an seiner Schwester vergangen hat. Doch es könnte auch sein, dass er das vermieden hat, dass er in Wien eine Ersatzinszenierung für sein nicht legitimes Begehren gefunden hat. Diese Ungewissheit wird in Stillleben durchgearbeitet, mit einer Geduld, die manchmal an Begriffsstutzigkeit zu grenzen scheint.

Doch dann findet Sebastian Meise ein überzeugendes Bild für die Not der Subjektivität, die das "gesunde Volksempfinden" oft nicht wahrhaben will. In einem Land, das Wolfgang Priklopil und Josef Fritzl hervorgebracht hat, ist es mehr als angebracht, die Frage der illegitimen Sexualität, die immer auch eine der sexuellen Gewalt ist, auf einem komplexeren Niveau zu verhandeln, als es im Alltag zumeist geschieht. Die zwei Filme von Sebastian Meise tun dazu das Nötige in der jeweils richtigen Form. (Bert Rebhandl, DER STANDARD, 19.5.2012)