"Man kommt sich immer so zweitklassig vor", erzählt Fahrradschülerin Romana Gleitsmann, "aber über Dreißig geniert man sich einfach, Fahrradfahren zu lernen". Die übrigen Frauen am Platz stimmen zu. Auch sie hat es einiges an Überwindung gekostet, sich zur endgültigen Teilnahme am "Absolute Beginners"-Kurs für Erwachsene durchzuringen. "Die Leute reagieren so komisch, wenn man ihnen erzählt, dass man als Erwachsene Fahrad fahren lernt", fügt die Wienerin hinzu, "Manche fragen beispielsweise, ob man da auch mit Stützrädern beginnt."

Als Ursachen für das Kindheitsversäumnis nennen die Neo-Radfahrerinnen, die heute im Alter von zwanzig bis siebzig Jahren sind, unter anderem ängstliche Eltern, die Einschränkungen einer Stadtkindheit, die Fahradnot der Nachkriegszeit oder schlichtweg fehlende Übung.

Der Biografieknick im Nichtkönnen

Es ist der letzte Tag des einwöchigen Fahrradkurses. Am Blick der Frauen, die sich an diesem Vormittag auf dem Übungsplatz im Donaupark versammelt haben, sieht man sofort, dass sie sich ihr Faltrad inzwischen vertraut gemacht haben. Und doch huschen zeitweise noch Selbstzweifel und Angst über ihre Gesichter, wenn der eigens aus Deutschland angereiste Fahrradlehrer Christian Burmeister die ersten Übungen des Tagesprogramms beschreibt.

"Die Frauen haben ein halbes Leben des Nichtkönnens hinter sich", erklärt der unter Insidern bekannte Fahrrad-Philosoph, "Plötzlich können sie es, und dieser Biografieknick bringt Zweifel mit sich: Kann ich das und will ich das überhaupt? Manche beginnen zu hadern, alles was dann mit dem Rad gemacht wird, wird als schlecht verbucht und dann gibt es Tage, die kann man vergessen."

Die Reibung mit der Konvention

Der diplomierte Sportwissenschafter spricht aus 25-jähriger Erfahrung; sein inzwischen patentiertes Lehrkonzept "Moveo ergo sum" hat er an den berühmten Ausspruch des französischen Philosophen René Descartes angelehnt.

Obwohl seine Heransgehensweise gute Erfolge erzielt und inzwischen vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC), der Hamburger Verkehrspolizei, der Unfallkasse Nord und der Schulbehörde Hamburg unterstützt wird, hat er laut eigener Aussage unter den traditionellen Fahrradlehrern Deutschlands immer noch einen schweren Stand: „Wenn ich sage, dass ich etwas anderes mache als konventionelle Fahrlehrer, dann bin ich gleich abgehoben. Das finde ich unfair. Meine methodischen Ansätze ergeben sich über die Geisteshaltung, darüber muss man sich unterhalten und nicht über die Übungen."

Die "Laufradphase"

Am Anfang jeder Kurswoche steht die "Laufradphase". Zwei Tage lang wird mithilfe eines Rollers das Gefühl für die Gesetzmäßigkeiten des Fahrens und Lenkens erlernt. Die Teilnehmer machen Fallübungen, fahren im Kreis und sammeln Erfahrungen im Zusammenspiel zwischen Bauch und Rad. Danach geht es ohne weitere Vorbereitung direkt aufs Rad.

Im Gespräch kristallisiert sich schnell heraus, worum es bei Burmeisters Konzept geht: "Pädagogen haben keine Ahnung welche Mechanismen arbeiten, in denen wir uns entfalten, in denen wir unsere Differenzierungsleistung vollbringen, Gefühl für das Gerät zu entwickeln. Goethe sagt in Faust I 'Willst Du entstehn, entsteh auf eigne Hand!'. Die Krux an der Geschichte ist die Ergebnisorientierung unserer Gesellschaft, dabei geht es aber ums Erlebnis."

Fahrradlehrer-"Azubis"

Mit von der Partie sind an diesem Tag auch Bernhard Dorfmann, Betreiber der Wiener City Cycling School und Veranstalter des Kurses, sowie Josef aus Wien, der sich als Auszubildender während jeder Übung fleißig Notizen macht. Die beiden machen aus ihrer Bewunderung für die elegante Methode keinen Hehl. "Es ist alles so klar und toll, wenn man dabei ist", schwärmt Dorfmann beim Zuschauen und reflektiert dabei auf früher abgehaltene Fahradkurse nach konventionellen Methoden: "Normalerweise setzt man die Leute sofort aufs Rad und lässt sie immer wieder probieren. Es ist sehr mühsam, bis sie die Funktion der Lenkung begreifen und viele gehen danach mit blauen Knien nach Hause."

Auf dem Weg zum deutschen Standard

Burmeisters Methode ist inzwischen zum Diskussionsgegenstand im deutschen Verkehrsministerium geworden und soll allem Anschein nach zukünftig zum Standard in der Radfahrlehrerausbildung in Deutschland werden. Ein schöner Erfolg, der jedoch nicht nur Positives mit sich bringen wird. „Je weiter dieses Konzept reift, desto mehr Leute sind im Fahrwasser, die eigentlich gar nicht kapieren, was wir wollen", meint der Fahrradtrainer, "Es ist und bleibt wichtig, dass man die konzeptionelle Basis versteht und bewusst macht."

Dank dem Platz, Dank dem Fahrrad

Nach diesem Gedanken zur Kommerzialisierung dreht sich Burmeister zu seinen nunmehr flügge gewordenen Schülerinnen und bittet sie zum Abschluss noch um eines: „Nach der Verabschiedung bedankt euch bitte noch bei bei diesem Platz, denn er hat euch sehr geholfen und ebenso bei eurem Fahrrad, wenn ihr es beim Verleih zurückgebt."

Info:

Der nächste Termin für "Absolute Beginners" ist von 11. bis 22. Juni jeweils von Montag bis Freitag von 17.30 - bis 19.30 Uhr.

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Die Vormittagsgruppe lauscht aufmerksam den Instruktionen von Christian Burmeister.

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Dieser beweist als Lehrer komödiantisches Talent und führt auch mal vor, wie man es nicht machen sollte.

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Eine der ersten Übungen an diesem Tag ist dem kindlichen Zugang zum Radfahren nachempfunden: Die Teilnehmerinnen fahren auf eine Wand zu und testen aus, wie nahe sie sich herantrauen.

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Es folgt eine Parkourübung. Die Frauen gehen sie schnittig an, ...

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... schließlich gibt es ja Burmeister, der die umgefallenen Hütchen gleich wieder aufstellt.

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Schwieriger als gedacht: Es gilt, fahrend durch den schmalen Durchgang zwischen Wand und Tisch zu kommen. Die Worte "Ja, Ja, Ja" sind währenddessen laut zu intonieren.

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Um die Gefahrenquellen auszutesten, die Radfahrern im Alltagsleben begegnen, üben die Teilnehmerinnen auf einer Kreidestraße den Umgang mit außergewöhnlichen Situationen.

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Abschließend werden die vier Säulen des Fahrradfahrens in Kreide auf den Boden gemalt: Kreise ziehen, das Spiel mit der Lenkerbewegung, das Aufstehen im Radfahren und die Kunst des Anhaltens. (Tatjana Rauth, derStandard.at, 20.5.2012)

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