Eine liebe, ältere Dame hat eine dringliche Operation. Sie ist 90, schaut fit aus, blickt mich mit wachen Augen an. Ich nehme ihre Hand, drücke sie, stelle mich vor. "Ich bin Ihr Anästhesist, wir machen das jetzt gemeinsam." Ich erkläre ihr den Ablauf, kontrolliere nochmals die Befunde, alles passt. "So wie Sie aussehen, haben Sie sicher Sport betrieben", sage ich. Sie nickt und lächelt: "Ich mach immer noch täglich morgens meine Gymnastikübungen."
Die OP verläuft gut, es gibt keine Komplikationen. Unsere Patientin beginnt wieder schön und kräftig selbständig zu atmen. Bestätigt durch ein Gerät, das die wiederkehrende Atemmuskeltätigkeit anzeigt. Ich ziehe den Beatmungsschlauch, den Tubus, heraus. Weiter schöne Atemzüge.
Ich prüfe auch immer den ausgeatmeten Luftstrom an meiner Unterarminnenseite. Da ist die Haut besonders dünn und sensibel. Hier kann ich gut erkennen, ob, beziehungsweise wie viel, und wie kräftig der Atemzug ist.
Das mache ich auch diesmal. Ich halte meinen Unterarm über den Kopf unserer Patientin, sie atmet schön, die klinische Wirklichkeit und das Monitoring stimmen überein. Na bestens.
Ich spüre den Luftstrom, da öffnet sie plötzlich ihre Augen, blickt mich an, klar und zielstrebig, hebt unvermittelt den Kopf. Ich erstarre, rechne schon mit einem saftigen Biss, verharre gelähmt in Erwartung des finalen Schlages, sehe meinen Unterarm blutverschmiert,abgebissen, lose am Ellbogengelenk baumeln, das Beatmungsgerät voller Blutspritzer, sehe die OP-Decke nitschähnlich gezeichnet...... Sie hebt den Kopf und.... schmatz, küsst mich auf den Unterarm.
Was für eine Erleichterung und liebevoll wohltuende Überraschung. Und das beste Zeichen dafür, dass es der Patientin gut geht. (Robert Mosser, derStandard.at, 18.5.2012)