Möbel mit Swing: das "Sitzobejekt" von Stefan Heiliger.

Foto: Hersteller

Kinderstuhl "Casa Lino".

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"Freizwinger" von Stiletto Studios (Frank Schreiner).

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Vico Magistrettis Sessel "Simi".

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"Setzen Sie sich doch dort drüben hin. Das ist viel gemütlicher." Die Museumswärterin hat recht. Warum sollte sich die Besucherin der Ausstellung Stühle ohne Beine auf eine harte Bank ohne Lehne setzen, wenn sie sitzend schweben könnte. Also trabt die Frau auf die andere Seite des Schauraumes im Berliner Bauhaus-Archiv, setzt sich in einen der Stahlrohrschwinger mit der federnden Sitzfläche, beginnt zu wippen und lässt ihren Blick über die Sessel-Symphonie vor ihr gleiten. Dort baut sich eine skulpturale Welle aus einer ganzen Reihe von Freischwingern auf. Jedes der Objekte steht auf einem Podest wie ein Denkmal.

Die Ausstellung ist eine Hommage an eben diese "Stühle ohne Beine", wie sich auch die Ausstellung nennt. Sessel in Rot, Grün oder Blau, aus Materialien wie Stahl, Holz oder Plastik, in den verschiedensten Formen. Manchmal sehen sie etwas amöbenartig aus wie das skurrile Sitzobjekt "Elephant" des Franzosen Bernard Rancillac, oder sie sind klar und streng wie der Armlehnstuhl des Bauhaus-Multitalents Marcel Breuer oder etwas runder und beschwingter wie der MR20 von Ludwig Mies van der Rohe. Die beiden Letzteren sind bekanntlich die Klassiker unter den Freischwingern. Van der Rohe und Breuer wurden in diversen Prozessen um die Urheberschaft des revolutionären Freischwingers technische und kreative Anteile an dem schönen Sitzobjekt zugestanden.

Radikaler Design-Aufbruch

Die eigentliche Erfindung aber wurde dem Niederländer Mart Stam zugesprochen. Er hatte 1926 den sogenannten Kragstuhl ohne Hinterbeine entworfen. Allerdings war das typische Schwingen eines Freischwingers bei Stams Stuhl, den man ebenfalls in der Schau bewundern kann, noch eine recht starre und unbequeme, wenn nicht illusorische Angelegenheit, die auf einer Gasrohrkonstruktion ohne Sitzfläche basierte. Das elegante Schwingen brachten schließlich van der Rohe und Breuer dem Stuhl bei - und vor allem popularisierten sie die neuartige Sitzgelegenheit, die in den 1920er-Jahren zum Inbegriff für die Moderne und zum Zeichen für den radikalen Design-Aufbruch wurde. Der Freischwinger veränderte so nicht nur das Sitzen, sondern auch das Denken: Man wollte der Zukunft leicht und elegant entgegenschweben. "Die statische Architektur der Pyramiden ist überwunden. Unsere Architektur rollt, schwimmt, fliegt. Es kommt das Schweben, das Schwingen." Die zukunftsweisenden Worte des russischen Avantgardisten El Lissitzky prangen an der weißen Wand des Schauraumes, und sie wirken wie ein Mantra für den Freischwinger.

Die erschlagende Progressivität und dazu herausfordernde Design-Konzeption des Freischwingers inspirieren Designer bis heute, wie die Ausstellung zeigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Freischwinger zum Massenprodukt. Rasante Entwicklungen in den technischen Produktionsprozessen seit den 1950er- und 1960er-Jahren erfanden den Freischwinger in immer neuen Formen und mit neuartigen Materialien wie Sperrholz und Plastik. Dazu gehören Alexander Begges Kinderstuhl aus dem Jahr 1971, auf dem so mancher sein halbes Kindergartenleben verbracht haben dürfte.

Zukunftsfreund

Oder aber auch der sehr orangefarbene Plastikstuhl Mod. Cado 290 von Steen Ostengaard, der in seinen symmetrisch schönen Rundungen an die Inneneinrichtung von futuristischen Weltraumküchen erinnert. Die Botschaft ist klar: Wer auf diesem Stuhl sitzt, ist ein Zukunftsfreund - und von denen gab es bis zum Beginn des sauren Regens, bis zum Nato-Doppelbeschluss und der nuklearen Katastrophe von Tschernobyl 1986 ja nicht gerade wenige. Die Ausstellung, deren Exponate aus dem Münchner International Design Museum "Die Neue Sammlung" stammten, zeigt auch einige interessante Stücke aus dem DDR-Design, das mit dem Stapelstuhl von Ernst Moeckl oder mit dem Sessel von Winifried Stäb den Freischwinger vor allem als günstige und dennoch formschöne Sitzvariante für den Sozialisten von morgen definierte.

Das zweitjüngste Exponat stammt aus dem Jahr 2005. Das "Sitzobjekt" von Stefan Heiliger ist eine Art Sitzding auf nur einem geneigten Bein, das sehr viel Lust aufs schwingende Sitzen macht. Am Ende der Ausstellung steht dann der Myto-Freischwinger, den der Designer Konstantin Grcic zusammen mit dem italienischen Möbelhersteller Plank und den Chemiexperten von BASF entwickelte. Myto wird aus dem besonders fließfähigen Spritzgusskunststoff Ultradur hergestellt. Vor so einer wirklich erschlagenden Formschönheit hält man bedächtig inne und denkt sich: Der Freischwinger kann nur eines sein: ein Produkt der Liebe. Und die ist bekanntlich das Kind der Freiheit. (Ingo Petz, Rondo, DER STANDARD, 18.5.2012)