Das britische Model Agyness Deyn ist das aktuelle Gesicht der Werbekampagnen von Dr. Martens. Jetzt darf sie sogar eigene Treter designen.

Foto: AirWair

Früher, sagt der Kulturwissenschafter Tom Holert, bediente sich die Dissidenz des Konsums, heute ist es genau umgekehrt. Das macht sich auch die Marketingabteilung von Dr. Martens zu eigen.

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Da sind sie wieder, die Dr. Martens: Das hinter dem Schuh stehende Unternehmen AirWair International kündigte soeben an, dass sein Testimonial Agyness Deyn im Herbst eigene Martens designen dürfe. Die Devise: Die Schuhe sind so lässig wie das britische Model mit dem wasserstoffblonden Bob und - sie lassen sich so schnell nicht vertreiben.

Die rebellische Haltung, die an den Dr. Martens wie hartnäckige Kaugummimasse klebt, funktioniert heute als maßgeschneidertes Verkaufsargument. Rebellion mag als Haltung irrelevant geworden sein, als modischer Flirt mit dem Dreck und Glamour des "Undergrounds" funktioniert sie allemal.

Working Class Hero

Mitte der 60er von den Hard Mods, den späteren Skinheads, perfekt poliert zu Levi's-Jeans und Fred-Perry-Shirts kombiniert, gehört das einst von der britischen Working Class getragene Schuhwerk mittlerweile zum standardisierten subkulturellen Vokabular. Anders ausgedrückt: Keine Erzählung zur Jugendkulturmode - von Punk über New Wave bis Grunge - kommt ohne den 1460er, den Acht-Loch-Stiefel aus. Aufgrund des Kurzzeitgedächtnisses der Jugendmoden scheinen die Martens immer zu funktionieren. Doch die Bedeutung der Schuhe ist ähnlich dem vielstrapazierten Begriff der Jugendmoden einem Wandel unterlegen.

Ein Schuh im Wandel der Zeit

Während sich die Jugendkulturen der Nachkriegszeit die Zweckentfremdung und Selbstermächtigung auf die Fahnen schrieben, gibt es spätestens seit Mitte der 1990er-Jahre eine Kulturindustrie, die Ästhetik der Jugendkulturen clever für sich nutzt. Schon 1995 stellte der Publizist Tom Holert fest: "Wo sich Dissidenz einmal des Konsums bediente, so bediente sich nun der Konsum der Dissidenz." Und 2012? Heute, sagt Roman Horak, Wiener Sozialwissenschafter mit Schwerpunkt Cultural Studies, gehe es bei Jugendszenen eher um Devianz denn um Dissidenz: "Wobei durchaus anzumerken ist, dass das Moment des Widerständigen auch historisch gerne überbewertet wurde." Wo also die Dr. Martens 1965 zumindest als symbolischer Störfaktor inmitten der modischen Spießigkeit der Mittelklasse eingesetzt wurden, funktionieren die Schuhe heute als subkulturell aufgeladenes Sehnsuchtssymbol und Zitat.

"Vintage" für die Meinungsmacher

Durch ihren großen Variantenreichtum sprechen die Docs heute eine größere Bandbreite an Konsumenten an: Ob mit Blümchenmuster, in Zebra- oder Leopardenoptik, ästhetische Beschränkungen kennen Dr. Martens nicht. Neben den in die Jahre gekommenen Expunks will man jetzt wieder die Speerspitze der konsumfreudigen Zielgruppen, die hippen, modischen Meinungsmacher von Williamsburg bis Berlin-Mitte erreichen. Dafür hat das Unternehmen Airwair International seine Marketingstrategie gerade noch rechtzeitig geändert und die sogenannten Hipsters als Zielgruppe ins Visier genommen. Diese lässigen Zeitgenossen mit den Retro-Brillen auf ihren blassen Nasen tragen mittlerweile weltweit Dr. Martens zu Röhrlhosen, kokettieren mit der Coolness britischer Jugendkulturen und legen Wert auf die Herkunft ihrer Treter. Die Besinnung des Unternehmens auf seine Wurzeln scheint aufgegangen zu sein. Eine neuaufgelegte "Vintage Collection" wird nun nicht mehr in Asien, sondern wieder in England hergestellt und offensiv als "Antifashion Fashion" verkauft - "Buy British" die Devise.

The Art of Rebellion III

Mittlerweile verkauft man die angesagte "Vintage Collection" von Dr. Martens da, wo die Zielgruppe am besten zu fassen ist. Zum Beispiel in den Shops der US-amerikanischen Kette Urban Outfitters. Eben erst eröffnete auf 1500 Quadratmetern im Neuen Kranzler Eck eine Filiale am Kurfürstendamm in Berlin. Hier gibt es unter einem Dach so ziemlich alles, was der Mainstream der Minderheiten zwischen 18 und 35 liebt - und zwar vom DJ-Kopfhörer über die angesagten Labels wie Acne oder eben Dr. Martens bis zu Wohnaccessoires und der passenden Literatur: Art Of The Rebellion III, ein Fotobildband über Street-Art beispielsweise.

Smart und flexibel

Die Sache mit der Rebellion, die funktioniert bei Urban Outfitters quasi wie ein Gütesiegel. Dabei ist es gar nicht so sicher, ob die jungen Hipster damit überhaupt etwas zu tun haben wollen: Sie beherrschen die aktuellen visuellen Codes zwar aus dem Effeff, auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner lässt sich ihre Haltung aber nicht bringen. "Ich denke", sagt Roman Horak, "dass sich am Phänomen des Hipsters besonders deutlich das Erscheinungsbild gegenwärtigen Jugendkultur zeigt, nämlich der Umstand, dass sie als Singularbegriff kaum noch zu fassen ist. Besser wäre es, wenn überhaupt, von Jugendkulturen im Plural zu reden." Ein Merkmal, das ihnen allen gemeinsam ist: Ihre Stylingcodes verändern sich genauso schnell, wie sie von der Kulturindustrie festgelegt werden: Für Hipster gilt deswegen die Devise: smart und flexibel sein.

Über die Dr. Martens heißt es im Onlineshop von Urban Outfitters übrigens: "Heutzutage muss man kein rebellischer Teen mehr sein, um den berühmten ,Airwair'-Komfort von Dr. Martens zu genießen." Wahre Worte - da hat die PR-Abteilung ganze Arbeit geleistet. (Anne Feldkamp, Rondo, DER STANDARD, 18.5.2012)