Harvard-Historiker Stephen Greenblatt schrieb ein brillantes Buch über ein Lehrgedicht von Lukrez, das auch heute noch von Brisanz ist.

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Porträt des Florentiner Bücherjägers Poggio Bracciolini.

Foto: Staatliche Gemäldegalerie Berlin

"Im Winter 1417 reitet Poggio Bracciolini durch die bewaldeten Täler und Höhen Süddeutschlands seinem fernen Ziel entgegen, einem Kloster, von dem es heißt, es beherberge ein geheimes Lager alter Handschriften." Nein, so beginnt nicht der nächste Roman von Umberto Eco. Das ist der erste Satz jener famosen Studie, die dem Harvard-Professor Stephen Greenblatt den National Book Award 2011 und vor wenigen Wochen den Pulitzerpreis in der Kategorie Sachbuch eintrug.

Was auf diesen Eröffnungssatz folgt, sind knapp 300 Seiten brillante Wissenschaftsprosa über ein Thema, das zumindest auf den ersten Seiten ziemlich weit weg erscheint: Der Shakespeare-Spezialist Greenblatt rekonstruiert, wie sich am Ende des Mittelalters gelehrte "Bücherjäger" auf die Suche nach Texten aus der römischen Antike machen - und wie in der Folge der wichtigste Fund von Poggio Bracciolini die Renaissance mit auf den Weg brachte.

Die Pointe dabei: Dieser mehr als 2000 Jahre alte Text, den der humanistische Büchernarr zu Beginn des 15. Jahrhunderts wiederentdeckte, nämlich Lukrez' Abhandlung "De rerum natura", trug nicht nur zum Ende des Mittelalters und zur Wiedergeburt der Antike bei. Er hat für Greenblatt auch heute noch höchste Brisanz und Aktualität.

Zunächst aber ist einmal zu klären, warum der aus Florenz stammende Bracciolini und andere Bücherjäger vor allem in mittelalterlichen Klosterbibliotheken heidnische Texte der Antike zu finden hofften. Die Antwort auf die Frage nützt der renommierte Historiker und Bestsellerautor elegant dazu, en passant Einblicke in klösterliche Schreibstuben zu geben: Mönche waren dort zum Lesen und wortgetreuen Kopieren alter Texte verpflichtet. Und sie trugen so paradoxerweise zum Überleben eigentlich verdammenswerter unchristlicher Texte bei.

Der hochgebildete Bracciolini wiederum war eigentlich apostolischer Sekretär und enger Mitarbeiter von Papst Johannes XXII. Nach dessen Gefangennahme macht sich der arbeitslos gewordene Humanist auf die Suche nach den verschollenen Texten und landet dann in einem deutschen Kloster - bis heute ist unklar, in welchem - seinen Haupttreffer: Er stöbert eine mittelalterliche Kopie des antiken Lehrgedichts von Lukrez auf.

Wie dieses Buch dann nach und nach die Welt zumindest ein wenig veränderte, wie seine hochaktuelle Botschaft aber auch immer wieder - nicht zuletzt von Bracciolini selbst - entschärft wurde, dem ist dann der Hauptteil von Greenblatts Meisterwerk Die Wende gewidmet. Greenblatt geht es dabei nicht nur darum, den verschlungenen Einfluss des Lehrgedichts auf die Renaissance zu zeigen, deren Zustandekommen ein sehr viel komplexerer Prozess war, wie die buchstäblich epochemachenden Arbeiten von Jacob Burckhardt, Johan Huizinga oder Peter Burke längst zeigten.

Der Begründer des New Historicism, der literarische Texte auch aus dem Kontext der Zeit verstehen will, nimmt sich nämlich auch sehr intensiv des eigentlichen Inhalts des Lehrgedichts an - und verschweigt auch nicht seine Sympathie für die befreiende Botschaft von Lukrez' materialistischer Philosophie.

So wie sein Vorbild, der griechische Philosoph Epikur, geht auch Lukrez davon aus, dass kleinste Teilchen, also Atome, die Grundbausteine des Universums sind und in einem endlosen Prozess von Schöpfung und Zerstörung stehen. Dieses radikale Weltbild sieht zudem weder einen Schöpfergott noch ein Jenseits vor. Es spricht aber auch dem Menschen eine privilegierte Stellung ab.

Genuss als Lebensprinzip

Die philosophische Kernbotschaft des Epikureers Lukrez sieht Greenblatt darin, dass es kein höheres ethisches Ziel gebe, "als sich und anderen Genuss zu verschaffen. Alles andere, der Dienst am Staat, die Verherrlichung der Götter oder der Führer, die harten Prüfungen der Tugend durch Selbstaufopferung, ist zweitrangig, irregeleitet und betrügerisch."

Dass dieses atheistische, ganz am Diesseits orientierte Programm - zumal in den USA am Beginn des 21. Jahrhunderts - eine Provokation darstellt, muss Greenblatt nicht eigens betonen. Zu offensichtlich ist, um wie viel moderner als all die heutigen hegemonialen christlich-fundamentalistischen Lehren, die aus Gottesfurcht Kapital schlagen, das Weltbild des Römers war. Mit dem Schlusssatz des Buchs gelingt Greenblatt dann aber dann noch einmal eine brillante Pointe, die darauf verweist, dass man auch in den USA schon einmal weiter war mit der Rezeption von Lukrez' Ideen: Der Satz stammt nämlich von Thomas Jefferson, dem dritten Präsidenten der USA und Mitautor der Unabhängigkeitserklärung, und er lautet schlicht: "Ich bin Epikureer." (Klaus Taschwer/DER STANDARD, 12./13.5. 2012)