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Pehnts ProtagonistInnen – Großmutter, Mutter, Kind: Plaudertaschen, Zwitschermaschinen, redselig. Plötzlich schweigen gilt nicht.

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Pehnt: "Ich war ehrlich verblüfft, die gleichen Beziehungsgefüge relativ flächendeckend bei anderen meiner Generation zu entdecken …"

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"Chronik der Nähe" ist die Geschichte dreier Frauengenerationen. Josef Bichler sprach mit Annette Pehnt über das schwierige Verhältnis von Müttern und Töchtern, Sprechen und Schweigen, Nähe und Distanz.

STANDARD: Frau Pehnt, in Ihrem Roman "Insel 34" fragt der Vater seine hochbegabte und zukunftsunentschiedene Tochter immerzu, ob denn ihr Herz für diese oder jene Sache schlage und bringt sie damit in die Verlegenheit des Antwortens. In "Chronik der Nähe" sind es die drängenden Fragen einer Tochter an ihre Mutter, die den Text prägen. Wie sehr schlägt Ihr Herz für dieses Buch?

Pehnt: Während des Schreibprozesses haben all meine Bücher hohe Dringlichkeit; es gibt keine Alternative zu ihnen. Das neue Buch bringt mein Herz nicht mehr zum Glühen als die anderen, aber es war heikler als die anderen, weil es darin um eine Mutterfigur geht, die meine sein könnte. Der Tod meiner eigenen Mutter hat dieses Buch überhaupt erst möglich gemacht. Aber auch nötig.

STANDARD: Warum?

Pehnt: Der Tod ist ja das unverrückbare Ende aller Gespräche. Aber wir waren noch mitten im Gespräch! Also musste ich es allein weiterführen, ein Weitersprechen über den Tod hinaus. Voller Sehnsucht. Das alles ist heikel, will verarbeitet werden, zieht an verschiedenen Befürchtungen, Rücksichtnahmen, Tabus, Erinnerungen. Zugleich hatte ich dadurch, dass meine Mutter mir kein Gegenüber mehr war, mehr Freiheit und vielleicht auch mehr Schärfe im Nachdenken.

STANDARD: Hat dieses Mehr an Schärfe auch mit der Form der Auseinandersetzung, also dem Schreiben, zu tun?

Pehnt: Bestimmt. Erzählerisch lässt sich anders antworten, widersprüchlicher, fragiler, ohne Selbstgewissheit.

STANDARD: Dient das Spezifizierte – also in diesem Buch konkret Tochter, Mutter, Großmutter – als Folie, vor der etwas Allgemeineres, Größeres verhandelt wird?

Pehnt: Ich denke – zumindest versuche und hoffe ich es -, dass ich über die konkreten Themen grundsätzliche Fragen, Sehnsüchte, Befindlichkeiten beschreibe. Aber für diese Untersuchungen braucht es einen Stoff, durch den sich die Fragen – Wie kann ich leben? Was macht mich aus? Wohin gehöre ich? Gibt es mich? Wer kann das bezeugen? Wie sterbe ich? – konjugieren lassen.

STANDARD: Und welche Antworten haben Sie gefunden?

Pehnt: Darauf gibt es höchstens vorläufige Antworten, die sich dummerweise nichtnarrativ formuliert sehr banal anhören.

STANDARD: Und zwar wie?

Pehnt: Es wären gängige theoriegeleitete Antworten, von fragmentarischer Zeiterfahrung, von schwach konturierter Identität, von den körperlichen Grenzen aller Sprachspiele.

STANDARD: Banaleres wäre denkbar.

Pehnt: Banal ist der falsche Ausdruck, aber diese Antworten wären erklärend und selbstgewiss. Bei diesem Buch wäre es etwa auch die Stammtischweisheit vom weiblichen Redeverhalten.

STANDARD: Zu Beginn des Buches muss die Ich-Erzählerin mit der Tatsache zurechtkommen, dass ihre im Sterben liegende Mutter bereits zu schwach zum Sprechen ist. Ich zitiere: "Ein Tag ohne Sprechen gilt nicht. Heute Morgen warst du wie zugenäht, nichts gesagt, aber auch gar nichts, so etwas von nichts. Ich wollte deine Lippen auseinanderzerren und die Augenlider hochstemmen, einfach nichts zu sagen, das geht in unserer Familie nicht, vieles geht, aber nicht sprechen: nicht. Großmutter, Mutter, Kind: wortgewaltig, Lästermäuler, nicht auf den Mund gefallen, Quasselstrippen, Plaudertaschen, Zwitschermaschinen, redselig. Plötzlich schweigen gilt nicht. Wenn du nichts sagst, mache ich es für dich." – Warum hält die Tochter das Verstummen der Mutter so schwer aus?

Pehnt: Weil im Schweigen tatsächliche Nähe zu finden wäre. Aber genau die Verweigerung von Nähe durch die Mutter ist es ja, wodurch diese Beziehung geprägt ist. Eine ganz große Sehnsucht vieler Figuren in dem Band ist es, schweigend in der Gegenwart eines anderen sein zu dürfen.

STANDARD: Und wenn das nicht möglich ist – ist dann trotzdem Nähe herstellbar?

Pehnt: Die Ich-Erzählerin versucht das nach Kräften, indem sie mit der Mutter, die nicht antwortet, hadert, ihr Vorwürfe macht, sie aber auch umwirbt, lobt, liebt, immer wieder neu ansetzt, sie und damit sich selbst und die Version von sich selbst, die die Mutter ihr mit auf den Weg gibt, zu deuten.

STANDARD: Gäbe es nicht eine viel unmittelbarere Form von Nähe?

Pehnt: Bestimmt. Etwa da, wo sich Körper nahe sind. Passiert in dieser Geschichte fast gar nicht, wenn, dann ungeschickt, indirekt, muss auch gleich wieder aufgelöst werden. Stattdessen dann eben Reden, inneres Reden in diesem Fall, an ein Du, das nicht antwortet.

STANDARD: Setzt Nähe also die Präsenz von Körpern und die Absenz von Sprache voraus?

Pehnt: Nein, ich kenne auch ein beglückendes, gelingendes Sprechen, aber ob es das zwischen einander verwandten Menschen geben kann, bezweifle ich. Bei meinen Figuren jedenfalls nicht. Da ist sogar die körperliche Nähe oft zu überfrachtet, zu gewollt oder überinszeniert und misslingt.

STANDARD: Sie beschreiben da etwas, das wohl viele Leserinnen und Leser anhand ihrer eigenen familiären Muster nachvollziehen können. Ist diese Form des Einander- fremd-Seins vielleicht typisch für eine ganz bestimmte Generation?

Pehnt: In der Tat glaube ich, dass sich in den Mustern, die die "Kinder der Kriegskinder" inszenieren und die ich auch an mir beobachte, vor allem genau diese Generation wiederfinden wird. Das sind ja Phänomene – das Schweigen der Mütter, das Durchhalten, die Verweigerung von Nähe, das Nichtkörperliche, die Tapferkeit, die Bescheidenheit und der verdeckte Stolz dahinter, das Verbergen von Schwäche -, die sich aus einer bestimmten Zeit heraus, einem geschichtlich relativ genau verorteten Erleben erklären. Ich war – obwohl ich es mir im Grunde hätte denken können – ehrlich verblüfft, die gleichen Beziehungsgefüge relativ flächendeckend bei anderen meiner Generation zu entdecken, als ich angefangen habe, danach zu fragen und darauf zu achten.

STANDARD: Trotzdem würden Sie sich vermutlich gegen eine Etikettierung des Buches als Generationen- oder Familienroman strikt verwehren.

Pehnt: Ja, diese Zuschreibungen erzeugen in mir zutiefst Genervtheit, ganz ehrlich. So bewerben eben jetzt die Verlage all die Bücher, in denen in irgendeiner Weise Eltern und Kinder vorkommen und Zeit vergeht. Im Moment hätte ich eigentlich lieber gegen den Trend einen Text ganz ohne Familienbezüge geschrieben, aber es stand nun mal an, und ich bin dem Stoff nachgegangen, egal ob alle Kritiker lustlos den vermeintlich dreitausendsten Familienroman in die Ecke werfen.

STANDARD: Sind Ihnen die Kritiken zu Ihren Büchern egal?

Pehnt: Ganz und gar nicht. Ich lese alle Kritiken, so auch jetzt die zu diesem Buch, akribisch und in heller Aufregung und meistens immer wieder. Völlig empört oder hingerissen mich verstanden fühlend. Ein bisschen besessen und nicht sehr cool. Aber es ist ja auch, abgesehen von den Leserreaktionen bei Lesungen, die einzige Rückmeldung, die es nach jahrelangem Herumschreiben gibt.

STANDARD: Dann löste wohl die Feststellung, dass in der "Chronik der Nähe" von drei Frauen aus drei verschiedenen Generationen erzählt werde, bei Ihnen ein Naserümpfen aus?

Pehnt: Na ja, die bloße Feststellung stimmt ja erstmal. Aber wenn darüber hinaus wenig gesagt wird, bedient das halt die Schublade, und dann verblasst alles, was mir an dem Text auch wichtig ist. Das Ganze wird ja nicht geschichtlich eingebettet und dann breit auserzählt. Und es werden auch nicht andere Mütterkonstellationen eingeflochten, sondern es bleibt dieses eine kleine Labor. Das Generationentypische daran wird – das hoffe ich zumindest – im Text ja nicht benannt, das findet dann vielleicht im Auge des Betrachters statt. Im Gegenteil weiß die Ich-Erzählerin viel und zugleich sehr wenig über ihre Mutter und sich. Sie weiß auch nicht, dass sie dieses Machtgefüge mit vielen anderen ihrer Generation teilt. Deswegen habe ich auch solche Schwierigkeiten mit der "Drei Frauen"-Ansage; das lädt sofort ein zum Aha-Effekt, ja natürlich, drei Frauen, ich bin auch eine, auch ich habe eine Mutter, vielleicht sogar eine Tochter. So kann man vielleicht in eine Lektüre hineingeraten; wenn es dabei bleibt, immer wieder nur in der Abgleichung mit mir selbst, fände ich das schade.

STANDARD: Haben Sie durch die Arbeit an diesem Buch mehr über Ihre Mutter erfahren, als Sie vorher gewusst haben?

Pehnt: Faktisch weiß ich nicht mehr über sie als vorher auch, ich habe ja nicht recherchiert, sondern vor allem erfunden. Aber ich habe mich anders in sie hineingeschrieben, es ist mir innerlicher geworden. Ich habe mich vielleicht auch, zumindest ein paar Zentimeter, aus meinen eigenen Mutter-Tochter-Verwicklungen herauslösen können. Ich bin mit der Zeit immer weniger deckungsgleich mit der Ich-Erzählerin geworden.

STANDARD: Annie – so heißt die Mutter der Ich-Erzählerin im Buch – erlebt eine entbehrungsreiche und gefühlsarme Kindheit im Nachkriegsdeutschland, man fühlt sich atmosphärisch etwas an Hannah Arendts "Besuch in Deutschland" erinnert. Worum ging es Ihnen bei der Zeichnung von Annie?

Pehnt: Ich wollte anhand dieses Mädchens zeigen, wie Verhärtungen entstehen, die überlebenswichtig sein können. Ein Kind, das ständig mit Tod und Einsamkeit umzugehen hat, kann sich gar nicht leisten, Angst zu haben; was Annies Tochter später als Abweisung empfindet, ist eigentlich eine tiefe, aber gut vernarbte Verletzung. Darüber hinaus ging es mir auch um andere Fragen: Kann es überhaupt Biografien geben? Wer erzählt mir, wenn ich sterbe, meine Geschichte? Kann ein Leben rückblickend bilanziert werden? Gibt es ein Gelingen?

STANDARD: Nehmen wir gleich die erstgenannte Frage: Kann es überhaupt Biografien geben?

Pehnt: Auf das Buch bezogen, würde ich sagen: Nein, es kann keine Biografien geben, aber diesen Gedanken können wir nicht ertragen – also setzen wir alles daran, uns solche Biografien zurechtzuerzählen.

STANDARD: Ist Schreiben also auch ein Akt der Selbstvergewisserung?

Pehnt: Ja, absolut! Für mich jedenfalls. Schreiben ist sonst auch eine Menge, aber allem voran genau das. Mich gibt es nur, wenn ich mich erzähle, und ich habe dieses Gefühl ganz buchstäblich. Das ist auch der Grund, warum ich niemals nicht schreiben könnte.

STANDARD: Werden Sie vom unaufhörlichen Erzählen nicht müde?

Pehnt: Gar nicht. Ermüdung gibt es bei mir nur, wenn ich länger nicht schreibe. Seltsamerweise hat das Umschreiben der Fragen, obwohl es keine Antworten gibt, für mich etwas zutiefst Befriedigendes. Wenn ich eine Suchbewegung schön und einleuchtend komponieren kann, dann ist das total beglückend. In Zeiten, in denen ich nicht schreibe, kann es vorkommen, dass ich mich zwischen Erwartungen, Stimmen anderer, inneren Stimmen so verzettele, dass keine Kernzone mehr in Sicht ist.

STANDARD: Was geschieht beim Schreiben?

Pehnt: Man schafft sich beim Schreiben einen unbehausten Zustand, weil man die Vorläufigkeit des Sprachspiels nicht umgehen kann. Aber auch in der Unbehaustheit kann man sich "spüren", um es mal esoterisch zu sagen. Genazino-Figuren zum Beispiel machen ja genau das, gehen raus aus dem Haus, der Familie, der Ehe, streunen herum auf der Suche nach kurz aufleuchtenden sinnstiftenden Momenten, fühlen sich dabei völlig allein, aber sie fühlen; sie verlieren sich erst wieder, wenn sie gut behaust in ihrem Großraumbüro hocken und dem Irrsinn der Sprachspiele der anderen zuhören.

STANDARD: Wenn "eigentliches" Leben nur außerhalb der alltäglichen Ordnung geschieht, ist dann nicht jeder, der innerhalb der Ordnung lebt, von jeglicher wahren Empfindung abgeschnitten und zum Sentiment verdammt?

Pehnt: Ich glaube, dass ein Arrangement in einem durchaus nicht unangenehmen Lebensmittelmaß noch eine Menge Nichtgelebtes offenlässt. Bei mir gibt es eine sehr klare, im Grunde immer noch zu strikte Trennung zwischen alltäglich gelebtem Leben und dem, was sich in die Texte einspeist. Eine Art Wunde liegt dem Schreiben schon zugrunde, ein Mangel, Sehnsüchte, eine existenzielle Verlorenheit vielleicht sogar; aber man kann ja auch mit einer gut verbundenen Wunde zurechtkommen, mittelmäßiges Glück empfinden und trotzdem das Schreiben brauchen für all das Überschüssige, das da unter dem Verband noch pocht. Man braucht sich ja nicht ganz in die Dauer narkose zu begeben, kann es zulassen, dass zwischen Stullenschmieren und Schreibtisch etwas aufreißt; schwieriger ist es, wenn das termingerecht wieder zugehen muss, damit der Verband wieder drauf kann.

Anderes – Beobachtungen, Seltsamkeiten, Blicke, Sätze – speist sich ohne Fallhöhe gleich ins Schreiben ein. Ich bin ja keine andere, ob ich nun schreibe oder reise oder mit den Kindern spiele. Ich "hab mich ja selbst immer im Gepäck", wie Katja Lange-Müller das neulich sehr schön formulierte. Alles kommt dann durch den Klärfilter der Sprache und wird dadurch für mich überhaupt erst wirklich.

STANDARD: Wenn Schreiben heißt, die Wunde versorgen, müsste es eine Verwandtschaft zu anderen therapeutischen Prozessen geben.

Pehnt: Möglicherweise. Vielleicht liegt der Unterschied darin, dass es beim Schreiben, so wie in anderen Künsten auch, eine Formsprache gibt, Motive, eine Tradition, Modell-Erforschungen anderer, ein andauerndes und fortwährendes Gespräch, in das ich mich einklinken kann, während anders gelagerte Selbsterforschungen entweder ausschließlich ins Ich gehen oder ins Nichts. Weder nur auf das Ich noch auf das Nichts will ich hinaus, sondern vielleicht gerade diese Schnittstelle erkunden zwischen Ich, Welt und Sprache. Und je genauer ich das bei mir beschreiben lerne, desto mehr komme ich von diesem ganz privaten Ich weg und bin doch ganz bei mir. Dafür habe ich beim Schreiben ein Formenarsenal, Genres, das haben schon viele vor mir gemacht – das große Gemurmel! Ein tröstlicher Gedanke!

STANDARD: Geht es denn auch um Trost?

Pehnt: Wenn Sie auf den therapeutischen Effekt hinauswollen: In der Psychotherapie tut man, so wie ich es einschätze, nicht viel anderes, als sich selbst zu erzählen, sich einen Text zuzuschreiben, der stimmiger oder hilfreicher oder heilsamer ist als der vorherige. Beim Schreiben bin ich freier, ich kann mir Stimmen leihen, die nicht heilsam oder hilfreich sind, kann Monströses ausbauen, mir Figuren zu eigen machen; ich ziele nicht auf Stimmigkeit. Vielleicht gehört zur Selbsterforschung auch, mich in eine Neurose hineinzufantasieren oder in eine heillose Endlosschleife. Ich glaube nicht, dass es dabei einen therapeutischen Effekt gibt, aber wenn er sich ab und an einstellt – why not? Manchmal geht es nur darum, einen wahren Satz hinzukriegen.

STANDARD: Wie oft gelingt das?

Pehnt: Ach je. Ich weiß es nicht. Immer wieder mal. Manchmal auch ein bisschen öfter.

STANDARD: Und was beglückt Sie außerhalb der Sprache?

Pehnt: Musik machen. Mit dem Hund durch die Wiesen gehen. Und geschenkte Nähe. Die gibt es gerade dann nicht, wenn sie am meisten verlangt und eingefordert wird. Mit Kindern gibt es sie wunderbar, jedenfalls für mich mit meinen. (Josef Bichler, DER STANDARD, 12./13.5.2012)