Avantgarde, aufgemöbelt
Der Architekt Ferdinand Kramer (1898-1985) gehörte zum Team des Neuen Frankfurt der 1920er-Jahre unter Ernst May, das eine neue, soziale Stadt schuf mit vielen, bis heute beliebten Siedlungsbauten. Später, in der US-Emigration beschäftigte sich Kramer mit zerlegbaren "Knock down"-Möbeln, einem qualitativ hochwertigen Vorläufer des Ikea-Prinzips. Sein Hauptwerk als Architekt ist der Neuaufbau der Frankfurter Universität, den er ab 1952 als Universitätsbaumeister leitete. Ohne dies zu planen, schuf er damit der Frankfurter Studentenrevolte die architektonische Bühne. "Funktionell, billig und von einer fast zarten Form" urteilte einst Alexander Kluge über Kramers Architektur, und eben nicht, wie heute gewünscht, repräsentativ und klotzig.

Nun legt e15 gleich eine ganze Reihe von Kramer-Möbeln aus verschiedenen Schaffensphasen auf, von der Liege und dem Stuhl mit Ledergeflecht oder Gurtbespannung von 1925 über Beistelltische bis zu Garderobenhaken und Universitätstischen der 1950er-Jahre. Und siehe da: Sie wirken, wenn auch farblich ein wenig verändert, noch immer zeitgemäß.

www.e15.com
www.ferdinand-kramer.org

Foto: Hersteller

Von der Rolle
Als hätten die Designer eine derangierte Version eines sogenannten Klassikers, einen Stahlrohrstuhl, beim Sperrmüll gefunden und durch gezielte Umbauten reanimiert - so wirkt der neueste Wurf von Eoos für Walter Knoll. Der "Atelier Chair", gedacht als "perfekte Verbindung von Archaik, Poesie und Geometrie" (so die Designer) weist längst bekannte Elemente moderner Möbelgestaltung auf und kombiniert sie doch zu etwas völlig Neuem. Das Geheimnis des Sitzmöbels ist seine in der Höhe verstellbare Nackenrolle, die mittels Riemen und eines Metallsporns verstellt werden kann.

www.walter-knoll.de

Foto: Hersteller

Unter Druck
Den "alten Hut von Nils" und auch das Objekt "Schnee von gestern" habe man in Mailand im Gepäck, teilte das Möbelunternehmen Nils Holger Moormann aus dem bayerischen Aschau im Vorfeld der Messe mit und stapelte damit bewusst tief. Ingenieursarbeit und Einfallsreichtum waren nötig, um aus einer schönen Idee des in London lebenden Südtiroler Nachwuchsdesigners Harry Thaler ein serienreifes, bezahlbares Produkt zu machen. Der aus einem Stück Aluminiumblech gepresste Stuhl, der "Pressed Chair", geht auf einen Prototypen zurück, den Thaler im Rahmen seiner Abschlussarbeit am Londoner Royal College of Art entwickelte. Mit einem Zulieferer der Automobilindustrie, der "nicht gerade unter Auslastungsproblemen leidet", realisierte Moormann nun das Aluminium-Pressmöbel, das wie stets in der Nähe des Möbelunternehmers gefertigt wird - mit riesigen Werkzeugen und unter viel Druck. Am Ende bringt der "Pressed Chair" nur 2,8 Kilogramm auf die Waage. Und bequem sitzen kann man darauf auch.

www.moormann.de

Foto: Hersteller

Schmähbruder
Weiche Sofas, die aussehen als bestünden sie aus Brettern, runde Sitzkissen, die aussehen wie die Oberfläche eines Kaktus: Auch bei zeitgenössisch geformten Möbeln spielt Trompe-l'OEil, die vorsätzliche Augentäuschung, eine zunehmende Rolle. Kalt, abweisend geben sich etwa die neuen Editionsmöbel von Cerruti Baleri, "Louis XV goes to Sparta", entworfen von Maurizio Galante und Tal Lancman. Tatsächlich bestehen sie aus weichen Schaumarten, die in einer Sperrholzstruktur ruhen, mit Dacron-Textilien und einer flexiblen Fototapete aus Seide bezogen sind. Verkehrte Welt: Diese italienischen Möbel feierten bereits im Jänner auf der Kölner Möbelmesse Premiere, entfalten ihren morbiden Charme nun aber erst so richtig im Mailänder Showroom des Herstellers.

www.ceruttibaleri.com

Foto: Hersteller

Wiener Blut

Man nehme: einen westfälischen Handwerksbetrieb, gegründet 1896, der in vierter Generation von der Familie betrieben wird, einen Meister und Holztechniker sowie (seine Schwester) eine Designerin und bekannte Materialexpertin, suche sich international erfahrene und junge Designer, und fertig ist die Möbelkollektion. Ganz so einfach geht es auch wieder nicht. Doch was Nicola und Oliver Stattmann in Mailand vorzuzeigen hatten, ist handwerklich solide, gestalterisch durchdacht und wird bald schon bekannt sein unter dem Namen Stattmann Neue Möbel. Mit dabei auch das Regal "Plug Shelf" von Steffen Kehrle. Kehrle studierte in Wien bei Piva, Sipek, Lovegrove und Esslinger, bevor er sich in München selbstständig machte. Ab Juli soll die Kollektion und somit auch das Regal lieferbar sein.

www.stattmann-neuemoebel.de

Foto: Hersteller

Bretter für die Medici
In der Welt gegenwärtiger Alleskönner fällt Mattiazzi auf. Das in Udine beheimatete Familienunternehmen baut seit 1978 Möbel aus Holz als Vertragsunternehmen für andere. In den vergangenen Jahren wurde Mattiazzi durch die Zusammenarbeit mit international bekannten Designern bekannt. Die Firma ist keine Hinterhofwerkstatt, sondern ein kleines Industrieunternehmen mit bester Ausstattung (wie einer achtachsigen CNC-Fräse) und hervorragenden Handwerkern. Neben Entwürfen von Nitzan Cohen (jüngst in Saarbrücken zum Designprofessor berufen) realisierten auch Ronan und Erwan Bouroullec oder Sam Hecht außergewöhnliche Möbel. Das neueste Modell "Medici", der erste Sessel der Kollektion, stammt von Konstantin Grcic. Inspiriert vom Brett als Ausgangsmaterial der Tischlerarbeit (Grcics erlernte vor dem Design das Tischlerhandwerk), schuf der Münchner Designer ein ausladendes Möbel zur Entspannung mit ablesbaren Verbindungen des Holzes. Je nach Einsatzzweck im Innen- oder Außenraum stehen Nussbaum, Douglasie oder wärmebehandelte Esche zur Wahl, ebenso gibt es farbig lackierte Versionen des Sessels.

www.mattiazzi.eu

Foto: Hersteller

Der Geist Nippons
Wenn ihr Namen genannt wurde, dann bestenfalls nach Le Corbusier und Pierre Jeanneret für die und mit denen sie ab 1927 arbeitete. Trotz großer Einzelausstellungen (u. a. in Zürich und Paris) und zahlreicher Veröffentlichungen sind Charlotte Perriand (1903-1999) und ihr vielfältiges Werk als Designerin, Innenarchitektin, Fotografin und Ausstellungsmacherin noch immer zu entdecken. Da sie einige Möbel von Jean Prouvé weiterentwickelte und die Metallkomponenten ihrer eigenen Regalsysteme und Raumteiler in der Werkstatt von Jean Prouvé gefertigt wurden, galten diese mitunter als dessen Werk. Eine falsche Annahme, die Prouvé jedoch nie forcierte. Nachdem Cassina bereits einige Möbel Perriands neu aufgelegt hatte, war nun in Mailand erstmals die (mit Pierre Jeanneret entworfene) zerlegbare Berghütte als Rekonstruktion in Originalgröße von innen und außen zu sehen. Zudem stellte Cassina ihre "Bibliotheque Rangement" von 1956 als Serienprodukt "Nuage" vor. Das modular konstruierte Möbel erlaubt viele spielerische Anordnungen und Kombinationen und ist von Perriands Aufenthalt in Japan (1953/54) beeinflusst.

www.cassina.com

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Knet-Fauteuil
Die Geschwister Valerio und Monica Mazzei feiern 2012 das 25-jährige Bestehen ihrer Möbelmarke Edra, die von Anfang an unter der Art-Direktion des Designers Massimo Morozzi stand. Mit den "Paesaggi Italiani", einem Endlosschrank, schuf Morozzi dabei selbst eines der Erkennungszeichen der Kollektion, die mal vielfarbig, mal mit Goldoberfläche, mal transparent den Zeitgeist spiegeln. Auch die Brüder Campana wurden letztlich durch ihre Entwürfe für Edra einem breiten Publikum bekannt. Weniger vertraut ist vielen Möbelkennern dagegen bis heute Francesco Binfaré (Jahrgang 1939), der ab 1972 das Forschungslabor von Cassina und C&B Italia (heute B&B Italia) leitete. Mit seinen raumgreifenden Sitzmöbeln, die stets variabel und funktional sind, gehört er seit Anbeginn zu den prägenden Designern von Edra und zeigt, dass Sofas und Sessel nicht zum Aufrechtsitzen zwingen müssen, sondern, dass sie, Bühnenbildern gleich, große Spielflächen des Lebens sein können. Auch sein neuester Sessel "sfatto" (Italienisch für "ungemacht" wie das "ungemachte Bett") ist ein solches Möbel, das mit den Erwartungen des Nutzers spielt. Nicht das symmetrische Industrieprodukt interessiert Binfaré, das bestenfalls eine begrenzte Nutzung vorsieht, sondern das handwerklich-ingeniöse Objekt, das Schutz bietet, Bequemlichkeit und vom Nutzer nach Belieben besessen und umgeformt wird.

www.edra.com

(Thomas Edelmann, Rondo, DER STANDARD, 11.5.2012)

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