Vor ein paar Monaten unterzeichneten 25 der 27 Mitgliedsländer der Europäischen Union feierlich einen Vertrag, der sie verpflichtet, strikte Defizitgrenzen in ihren nationalen Verfassungen zu verankern. Dieser sogenannte "Fiskalpakt" war die Grundvoraussetzung, um Deutschland zu einer substanziellen Erhöhung der Mittel für die Rettungsfonds der Eurozone zu bewegen und um die Europäische Zentralbank dazu zu bringen, ihre "langfristige Refinanzierungsoperation" (LTRO) durchzuführen, die für die Stabilisierung der Finanzmärkte von entscheidender Bedeutung war.

Heute allerdings verlagert sich die Aufmerksamkeit in der Eurozone auf das Wachstum. Wir haben es hier mit einem wiederkehrenden Muster in der europäischen Politik zu tun: Zunächst wird die Sparpolitik ausgerufen und als Voraussetzung für Wachstum bezeichnet. Bricht danach aber die Rezession aus, wird das Wachstum als eine Voraussetzung für fortgesetzte Sparpolitik präsentiert.

Vor etwa fünfzehn Jahren befand sich Europa in einem ganz ähnlichen Zyklus. In den frühen 1990er Jahren, als die Pläne für eine Europäische Währungsunion (EWU) konzipiert wurden, bestand Deutschland, im Gegenzug für den Verzicht auf die D-Mark, auf einem "Stabilitätspakt". Als Europa nach 1995 in eine tiefe Rezession fiel, wandte man sich wieder dem Wachstum zu und mit der Entschließung des Europäischen Rates über Wachstum und Beschäftigung" wurde 1997 aus dem "Stabilitätspakt" der " Stabilitäts- und Wachstumspakt" (SWP).

Marshallplan für den Süden?

Die Notwendigkeit, Wachstum zu erlangen, ist heute genauso stark wie vor 15 Jahren. In Spanien lag die Arbeitslosenrate damals ebenso hoch wie heute und in Italien erreichte sie 1996 einen noch höheren Wert als heute. Auch der politische Hintergrund ist der gleiche: Das "W" im SWP wurde damals in erster Linie auf Drängen einer neuen französischen Regierung (unter Jacques Chirac) eingefügt. Auch heute ist Frankreich der politische Impulsgeber für die Hinwendung zu Wachstum.

Wachstum als politische Priorität zu etablieren, ist unumstritten (wer könnte auch ernsthaft etwas dagegen haben?) Aber die wahre Frage besteht darin, was Europa tun kann, um Wachstum zu erzeugen. Die ehrliche Antwort lautet: eher wenig.

Die Schlüsselelemente einer Wachstumsstrategie wie sie heute von den europäischen Spitzenpolitikern diskutiert wird, sind eigentlich die gleichen wie in den Jahren 1996 und 1997: Arbeitsmarktreformen, Stärkung des Binnenmarktes, Erhöhung der Mittel für die Europäische Investitionsbank (EIB) zur Weitergabe in Form von Krediten an Klein- und Mittelbetriebe (KMU) sowie aufgestockte Ressourcen für Investitionen in die Infrastruktur der ärmeren Mitgliedsländer. Vor allem die letzten beiden Maßnahmen stehen im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil sie mit erhöhten Ausgaben verbunden sind.

Allerdings sind die Umstände heute doch auch wieder ganz anders. Das Geschäftsmodell der EIB müsste radikal geändert werden, um für die Förderung des Wachstums nützlich zu sein, denn die EIB vergibt Kredite nur gegen staatliche Garantien. Die fiskalisch angeschlagenen Länder Südeuropas können sich jedoch keine weiteren Belastungen leisten.

Außerdem kann die EIB, im Gegensatz zu einem weitverbreiteten Irrtum, Kredite nicht direkt an Klein- und Mittelbetriebe vergeben. Die EIB stellt lediglich Mittel an große Banken zur Verfügung, die das Geld anschließend als Kredite an lokale KMU weitergeben. Genau das allerdings macht die Europäische Zentralbank mit ihren dreijährigen LTRO-Darlehen auch schon.

Überdies ist auch die Rede von einem "Marshallplan" für Südeuropa. Vor fünfzehn Jahren bestand dort eindeutiger Bedarf an verbesserter Infrastruktur. Seit damals allerdings haben die südlichen Länder ein Jahrzehnt ziemlich hoher Investitionen in die Infrastruktur hinter sich - mit Werten von über drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in Spanien, Griechenland und Portugal.

Aus diesem Grund verfügen die meisten Länder im Süden der Europäischen Union gegenwärtig auch über ausreichend Infrastruktur. Tatsächlich wären höhere Infrastruktur-Investitionen in Deutschland am sinnvollsten, wo sich die Ausgaben dafür zehn Jahre lang auf kümmerlichem Niveau bewegten (lediglich 1,6 Prozent des BIP ist nur halb so viel wie in Spanien). Deshalb sind auch die berühmten deutschen Autobahnen heute notorisch überlastet.

Aber es bedarf keiner europäischen Mittel, um Infrastruktur in Deutschland zu finanzieren, wo der Staat zu negativen tatsächlichen Kosten an Geld kommen kann. Zu den Zinssätzen, die Deutschland gegenwärtig zahlen muss, sollte es dem Staat gelingen, viele Investitionsprojekte mit positiver sozialer Rendite ausfindig zu machen.

Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland beinahe Vollbeschäftigung herrscht, würden Infrastrukturausgaben wahrscheinlich vermehrt Importe (und arbeitslose Bauarbeiter aus Spanien) anziehen, wodurch ein Beitrag zur dringend notwendigen Wiederherstellung des Gleichgewichts in der Eurozone geleistet werden würde.

Leider ist es unwahrscheinlich, dass dies auch eintritt, denn Infrastrukturausgaben stoßen in den meisten Fällen auf Widerstand aus der Bevölkerung. Tatsächlich werden Entscheidungen über derartige Ausgaben auf lokaler und regionaler Ebene gefällt, wo der basisdemokratische Widerstand gegen Großprojekte am stärksten ist (es dauerte beispielsweise über zwanzig Jahre, die Modernisierung des Bahnhofs Stuttgart durchzusetzen).

Zeit, umzudenken

Der Drang der politischen Entscheidungsträger Europas für alle sichtbar " etwas zu tun" bringt sie dazu, sich auf die wenigen Instrumente zu verlassen, von denen die EU behaupten kann, damit das Wachstum zu fördern. Dennoch sollten sie erkennen, dass die Wachstumskrise von heute anders ist. Eine wirkliche Lösung sollte nicht aus Sparprogrammen plus einem Marshallplans für den Süden bestehen, sondern aus fortgesetzter Sparpolitik plus Arbeitsmarktreformen im Süden, in Kombination mit höheren Infrastruktur-Investitionen in Deutschland und anderen Ländern mit einem Triple-A-Rating wie den Niederlanden.

Auch tiefgreifende Reformen auf dem deutschen Dienstleistungssektor würden helfen, das Produktivitätspotenzial des Landes freizusetzen und seinen Markt insbesondere für Dienstleistungsexporte aus dem Süden Europas zu öffnen.

Auf diese Weise hätte der Süden die Chance, seine recht gut ausgebildeten jungen Menschen mit Jobs zu versorgen, denen in Zeiten wie diesen oft nur die Wahl zwischen Arbeitslosigkeit und Auswanderung bleibt. (Daniel Gros, DER STANDARD, 9.5.2012 © Project Syndicate 2012, aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier)