Nein, François Hollande wird Europa keinen gefährlichen Linksruck bescheren, wie viele aufgekratzte Kommentatoren noch am Wahlabend und tags darauf auch die berühmten "Märkte" annahmen, die den Euro kurzfristig gleich einmal auf Talfahrt schickten. Für wirklich radikale politische Kurswechsel - Sozialismus alter Prägung - ist in den meisten Ländern der Europäischen Union auch längst kein Platz mehr.

Dazu sind die Volkswirtschaften wie die arbeitenden Bürger der Mitgliedsländer inzwischen viel zu stark vernetzt und aufeinander angewiesen; dazu sind Staaten mit offenen Grenzen und durch EU-Recht weitgehend harmonisierter Gesetzgebung allzu sehr verbunden. Kein Staat kann es sich in Wahrheit leisten, aus der Gemeinschaft mit einem Bocksprung auszubrechen, ohne selbst den größten Schaden zu erleiden - nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial.

Die übertriebenen Warnungen der französischen Rechten, ihr neuer Staatspräsident würde nun die Besitzenden enteignen oder in einem Akt selbstvergessener Ideologie Millionen von Ausländern ins Land lassen, sind üble Propaganda. Reste eines hart geführten Wahlkampfs.

Abgesehen davon, dass Hollandes klarer Sieg zu einem großen Teil auf das innenpolitische Versagen seines konservativen Gegners Nicolas Sarkozy zurückzuführen ist, markiert der Erfolg eine Wende ganz anderer Art. Die Bürger bewegt offenbar nicht so sehr die Frage, ob sie mit Sozialismus oder Neoliberalismus glücklich oder unglücklich werden. Grundsätzlicher bringen sie ihre Sorgen darüber zum Ausdruck, ob sie in der Gesellschaft überhaupt noch einen Platz finden können, der ihnen ein würdiges Leben ermöglicht. Das gilt für eine ganze Generation gut ausgebildeter Junger, die keinen sicheren Arbeitsplatz mehr finden, ebenso wie für Arbeiter und Angestellte, die weit vor Erreichen des Pensionsalters ausgemustert, "abgefunden" werden.

Mehr Bürger als je zuvor scheinen daran zu zweifeln, ob Freiheit, Demokratie und das Recht auf ein ordentliches Auskommen mit Arbeit, das ihnen in allen Grundgesetzen versprochen wird, auch für sie gilt. Das gilt nicht nur für Frankreich, sondern für viele andere Länder in Europa.

Die Wahl in Griechenland ist dafür das letzte, schockierende Beispiel: Eine derartige Abkehr von den etablierten "Volksparteien" hin zu radikalen Gruppen rechts und links hat es wohl seit den 1930er-Jahren nicht mehr gegeben.

Hollande, so scheint es, hat es am besten verstanden, darauf zu reagieren, indem er seinen Wahlkampf auf drei Säulen aufbaute. Er wolle vor allem der Jugend, der Gerechtigkeit, der demokratischen Mitsprache in seinem Land und in Europa eine Hoffnung geben. Er drehte das Diktum der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, wonach man "die Demokratie marktkonform machen" müsse, einfach ins Gegenteil um: "Der Markt muss demokratiekonform gemacht werden."

Damit hat er einen Nerv getroffen. Europa kann nicht so weitermachen wie bisher, wenn zum Beispiel die Hälfte der jungen Menschen in einigen Ländern keine Arbeit mehr finden.

Natürlich hat auch Hollande im strukturschwachen Frankreich kein Patentrezept anzubieten, wie man aus der Malaise herausfindet. Immerhin: Er scheute sich nicht, die Dinge beim Namen zu nennen, ein Anfang für eine Wende zum Besseren. "Alternativlos" ist nichts in der Demokratie. (Thomas Mayer, DER STANDARD, 8.5.2012)