Einst war Narodichi eine blühende Stadt: Heute sind die meisten Häuser verlassen, die sowjetischen Plattenbauten modern vor sich hin und verfallen, aus kaputten Häusern wachsen Pflanzen, und die Straßen sind voller Schlaglöcher, in denen sich Wasserpfützen sammeln.

Foto: STANDARD/Michael Riedmüller

Narodichi – Zwanzig Cent pro Kilo. So viel bekommt Viktor Melnychuk für das Alteisen, das er gemeinsam mit seinem Sohn in den verlassenen und verfallenen Häusern des kleinen Dorfs Kosnytsia sammelt. Eine andere Arbeit gibt es hier nicht. Denn nur 40 Kilometer entfernt steht noch immer der Katastrophenreaktor von Tschernobyl. Kosnytsia wurde nach dem verheerenden Unfall im April 1986 als Gefahrenzone 2 eingestuft. Das bedeutete: Die Bewohner mussten es verlassen. Nach zwanzig Jahren kehrte Melnychuk mit seiner Familie zurück, weil es auch in seiner neuen Heimatstadt keine Arbeit gab.

Sein eigenes Haus war zerstört, als er wieder kam. Das Haus, in dem der 42-Jährige heute wohnt, hatte früher andere Besitzer. Die seien mittlerweile aber verstorben, erzählt er. Fließendes Wasser hat das kleine Häuschen nicht, geheizt werden kann nur mit einem kleinen Holzofen. Während Viktor spricht, lässt die Kälte seinen Atem in kleinen Wolken aufsteigen. Dass es wegen der Strahlenbelastung noch immer gefährlich ist, hier zu leben, darüber will er sich keine Gedanken machen. "Es ist, wie es ist", sagt er lapidar und lächelt, während er seine zwei Ziegen in den kleinen Stall hinter seinem Haus treibt. Wie die meisten Menschen, die hier leben, verdrängt er die Gefahr der hohen Strahlenbelastung.

Sperrzone

In den Wochen nach dem Super-GAU wurde das Gebiet in einem Radius von 30 Kilometer um den Reaktor zur Sperrzone erklärt und evakuiert. 67.000 Menschen wurden in Sicherheit gebracht. Die Dörfer wurden plattgemacht. Insgesamt verloren rund 200.000 Menschen ihre Heimat, denn auch außerhalb der sogenannten "Todeszone" wurden Gebiete so schwer verstrahlt, dass ein normales Leben nicht mehr möglich war. Die Dörfer außerhalb der Sperrzone wurden nicht mehr evakuiert. Aber aufgrund der hohen Kontaminierung konnten die Menschen auch nicht bleiben. Ohne staatliche Unterstützung wussten viele nicht wohin, gingen niemals weg oder kamen nach Jahren, so wie Viktor, trotz hoher Strahlenbelastung wieder in ihre Heimat zurück.

Ein paar Kilometer von Kosnytsia entfernt liegt Narodichi, die größte Kleinstadt am Rande der Sperrzone. Vor der Katastrophe lebten hier 12. 000 Menschen, heute sind es nur noch 2500 – toleriert von den ukrainischen Behörden. "Es ist verboten, hier zu leben, aber wir können die Bewohner nicht völlig im Stich lassen", sagt Valery Trokhimenko, Distriktsgouverneur von Narodichi. Der ukrainische Staat kümmert sich nur um wenige Infrastrukturarbeiten: Straßen werden ausgebessert und die Gas- und Wasserleitungen werden instand gehalten. Ansonsten müssen sich die Einwohner selbst zurechtfinden. Arbeit gibt es kaum. Die wenigen Betriebe sind mehr oder weniger illegal. "Das Leben ist hart", sagt Viktor Melnychuk. In seinem Haus fällt fast täglich der Strom aus. Das Geld, das er für das gesammelte Alteisen bekommt, reicht kaum zum Leben. Weggehen möchte er aber nicht mehr.

Keine staatliche Unterstützung

Valery Rochkyvski ist einer der wenigen, die das Glück hatten, in der örtlichen Reißverschlussfabrik eine Stelle zu bekommen: "Wir bekommen keine staatliche Unterstützung, und Arbeitgeber gibt es fast keine." Erst vor ein paar Jahren ist er wieder nach Narodichi zurückgekommen, nach dem Reaktorunfall ging er zu Verwandten in einen anderen Landesteil. "Hier ist meine Heimat", antwortet er auf die Frage nach den Gründen seiner Rückkehr. Früher, erzählt er, sei hier viel los gewesen. "Narodichi war eine blühende Stadt. Wir alle hoffen, dass sie das auch in Zukunft wieder wird."

Wenn man hier durch die Straßen geht, ist es schwer zu glauben, dass seine Hoffnung jemals wieder Wirklichkeit wird. Die meisten Häuser sind verlassen. Die sowjetischen Plattenbauten modern vor sich hin und verfallen. Aus kaputten Fenstern wachsen Pflanzen, die Straßen sind voller Schlaglöcher, in denen sich Wasserpfützen sammeln. In den Gassen abseits der Hauptstraßen wirkt Narodichi wie eine Geisterstadt. Es ist ein unwirkliches Bild wie aus einem Film, der die Welt nach einer Apokalypse beschreibt. Ein paar Meter weiter herrscht plötzlich wieder reges Treiben, etwa beim Busbahnhof oder vor der einzigen Bank in der Stadt, einer Raiffeisenfiliale.

Es ist umstritten, wie hoch das Gesundheitsrisiko für die Bewohner ist. Neueste Studien gehen von einer eher geringen Strahlenbelastung aus, wenn man gewisse Regeln beachtet. So ist es etwa verboten, in den umliegenden Wäldern Pilze zu sammeln. Warnschilder weisen darauf hin. Die Krankheitsraten in Narodichi allerdings widersprechen der These eines geringen Risikos. Vor allem Kinder leiden unter massiven gesundheitlichen Problemen. "Das Immunsystem der Kinder hier ist extrem schwach", sagt Olena Mysyuk, die als Kinderärztin in dem kleinen örtlichen Spital arbeitet, das nur schlecht ausgestattet ist.

In der Region leben 1987 Kinder, davon sind 1351 registriert, die unter chronischen Krankheiten leiden. Blutarmut, Angina, Bronchitis, Probleme mit der Schilddrüse sind weitverbreitet, am meisten aber schwere Magen-Darm-Krankheiten. Beschwerden, welche die Ärztin auf eine hohe Strahlenbelastung und kontaminierte Lebensmittel zurückführt. Auch die Krebsrate ist hier um ein Vielfaches höher als im Rest des Landes. " Generell kann ich nicht sagen, dass hier irgendjemand wirklich gesund ist", zeichnet Mysyuk das erschreckende Bild.

Fehlbildungen

Derzeit sind 38 Kinder als schwerbehindert registriert. Der achtjährige Vladik ist einer von ihnen. Er wurde mit multiplen Fehlbildungen geboren, kann nur mit Schwierigkeiten gehen, nicht selbst essen. Seiner Mutter Galyna Tsetkov, die im April 1986 in Narodichi war, wurde nach seiner Geburt von Ärzten gesagt, dass er kein Jahr überleben werde. Vladik hat bereits sieben schwere Operationen hinter sich. Seit er vier Monate alt war, bekommt er eine Invalidenpension vom Staat, achtzig Euro pro Monat, was nicht annähernd für seine Behandlung reicht. Seine Mutter kann nicht arbeiten, da sie den Sohn rund um die Uhr pflegen muss.

Seit vergangenem Jahr kommt mehrmals die Woche eine Lehrerin nach Hause. Er schlägt sich gut, sagt die Mutter. Wie seine Zukunft aussehen soll, darüber will sie nicht nachdenken. Ähnlich geht es der Mutter von Bohdana Malay. Die Zehnjährige kam auch mit schweren Fehlbildungen zur Welt. Sie kann nicht sitzen, muss den ganzen Tag im Bett liegen. Ihre Mutter zieht sie allein auf. Dieses Jahr bekamen sie vom bayrischen Roten Kreuz ein Bett mit Rädern gespendet, vom eigenen Staat kommt kaum Hilfe. Und das, obwohl die Behinderung von Bohdana von den Behörden offiziell als Folge von Tschernobyl anerkannt wurde.

Babyboom

Das einzige Gebäude, das in Narodichi nach der Katastrophe renoviert wurde, ist der Kindergarten. Die Gelder dafür kamen von großzügigen Spendern aus Japan, die sich nach eigenen Erfahrungen mit den Folgen der Abwürfe der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki solidarisch zeigen. "From the people of Japan" steht auf Stickern, die auf den modernen Möbeln im Kindergarten kleben. Er ist gut besucht, dreißig Kinder tollen mit Spielzeug in der Hand herum.

Trotz aller Probleme gab es in Narodichi in den vergangenen Jahren einen regelrechten Babyboom. Für die Leiterin des Kindergartens Tatiana Kravtschenko ein Zeichen dafür, dass es wieder vorangeht: "Narodichi wird aufblühen. Kommen Sie in zehn Jahren wieder, Sie werden sehen", sagt sie, während die Eltern ihre Kinder abholen. Es ist einer der wenigen Momente hier, der so etwas wie Normalität ausstrahlt. (Michael Riedmüller, DER STANDARD, 8.5.2012)