"Das Trojanische Pferd" im Kasino am Schwarzenbergplatz.

Foto: Reinhard Maximilian Werner

Wien - Das Trojanische Pferd, eines der ältesten überlieferten Zeugnisse menschlicher Arglist, macht im Kasino des Burgtheaters beispielgebende Karriere. Zu Anfang - Götter und Menschen sind wie auf einem Laufsteg vorübergeflossen - kauert ein versprengter griechischer Krieger namens Sinon (Fabian Krüger) auf dem pflegeleichten Teppichboden. Aus Kreideklötzchen baut der schwatzhafte Mann Trojas Mauern. Die überzähligen Steine legt er zu einem Pferdchen zusammen: Die Wurzel allen Übels, ein Holzcontainer für blutschäumende Griechen, die Troja nach zehnjähriger Belagerung heimtückisch betreten, um es auszulöschen, ist ein Kinderspielzeug (Bühne: Jan Lauwers).

Damit ist aber auch das Größenmaß für Matthias Hartmanns szenischen Essay bereits vorgegeben. Weit davon entfernt, der unübersichtlichen Überlieferungslage etwas substanziell Neues hinzuzufügen, gönnen sich Leitung (Regisseur Hartmann, Dramaturgin Amely Joana Haag) und Mannschaft (17 Damen und Herren) eine szenische Aus- und Abschweifung. Troja muss weg. Bis es aber so weit ist - und ganz bis an sein städteverwüstendes Ziel gelangt der Abend freilich nie -, sprudeln die Quellen. Die eigentlichen Helden dieses Feldzuges heißen, ohne Vollständigkeit und in keiner besonderen Reihenfolge: Homer / Raoul Schrott, Rudolf Hagelstange, Christa Wolf, Peter von Matt, Walter Jens, Ovid, Luciano De Crescenzo, Gustav Schwab und Marie Cardinal.

Aus den Textzeugnissen werden Szenen herausgepresst: je nach Ertragslage köstliche Dramolette, aber auch fade Schmonzetten und lässliche Einwürfe. Am meisten verwundert an diesem Abend doch die Ungleichwertigkeit der zutage geförderten Bildungsgüter. Das Verspritzen poetischer Moralinsäure schmerzt, wenn Sylvie Rohrer, in strenger Abgeschiedenheit von den anderen, Christa Wolf deklamiert ("Achilles, das Vieh!"). Man fühlt sich köstlich unterhalten, wenn die drei Göttinnen in wallenden Gewändern um Paris' (Lucas Gregorowicz) Gunst werben. Überhaupt bildet das Schicksal des Trojanerprinzen das geheime Zentrum der Produktion. Er vergafft sich auf je unterschiedliche Weise in die schöne Helena, und man muss schon ein ausgemachter Barbar sein, damit einen Adina Vetter als königliche Gazelle im zinnoberroten Griechenkleid unberührt lässt.

Weitaus ratloser stimmt einen die Temperamentslage dieser in allen Belangen unfertigen Inszenierung. Früh stürzt das Schaumstoff-Troja in sich zusammen. Herrschaften aus allen Lagern thronen in den Trümmern: Seelen des Hades, die sich an ihre Vorleben erinnern. Das Reich der Toten bildet das Figurenarsenal. Muss man sich die Unterwelt deshalb aber als psychoanalytische Riesencouch vorstellen: als Besserungsanstalt für untote Helden?

Für die Götter entblößt Hartmann die fröhliche Seite des finsteren Stoffes. Sie schweben hoch oben, auf einer Brücke, über allem irdischen Zank und Hader. In ihrer Mitte erblüht in Gestalt der gekränkten Göttermutter Hera (Catrin Striebeck) das Urbild der Boulevard-Fachkraft. Ihr assistieren Pallas Athene (Christiane von Poelnitz) und Aphrodite (Stefanie Dvorak) prächtig. Zu ihren Füßen aber tummeln sich in rasch wechselnden Szenen die Vertreter der beiden Kriegsparteien: ein sagenhaft öliger Achilles (Oliver Masucci), gegen den der Trojaner Hektor (Daniel Jesch) wie ein junger Pflichtschullehrer wirkt. Man gewahrt nicht ohne leise Erschütterung den Tod des Patroklos (Sven Dolinski) und bewundert die archaische Zopffrisur von König Priamos (Bernd Birkhahn). Erstaunlich auch, wie banal umgangssprachlich sich Raoul Schrotts deutsche Ilias-Verse im Munde fantastischer Schauspieler ausnehmen.

Unterm Strich wandeln einen Jugendgefühle an. Die griechische Flotte - 1186 Schiffe - wird aus Manuskriptpapier gefaltet. Ihre Geschwader bedecken den Teppich. Das todbringende Pferd aber ersteht nach gut vier Stunden wie neu: Gestapelt aus den Schaumstoffziegeln der zum Einsturz gebrachten Mauer, ähnelt es einem gut genährten, etwas grob geratenen Bauernhund. Man hätte jetzt noch gerne gewusst: Wozu das Ganze? Kein Grund zur Empörung: Man kann sich phasenweise gut unterhalten, und das nächste Mal ließe sich das vermaledeite Pferd vielleicht aus Streichhölzern bauen. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 7.5.2012)