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Immer schneller, immer mehr: das Leben als Marathon in einer "Geiz ist geil"-Gesellschaft.

Foto: EPA/ALBERTO MARTIN

Mit meinen Gedanken bin ich schon die Stufen in meine Wohnung hinaufgerannt, weil Gehen mir vollkommen fremd ist. Aber der Rest von mir ist zuerst noch auf dem Fahrrad gesessen und vor dem Abspringen vom eigentlich noch in ziemlich rasanter Fahrt befindlichen Vehikel mit dem Vorderrad der Bordsteinkante gerade um diesen einen fatalen Zentimeter zu nahe gekommen.

Der Flug selbst war schmerzlos, von kurzer Dauer und voll böser Ahnungen. Gleich bin mit der linken Seite auf den Asphalt des Gehsteiges gekracht. Schlagartig ist das ästhetische Bild meines Fluges übergegangen in eines, das erbärmlich ist. Einiges ist gebrochen in mir, und dieser Umstand bringt mich für einige Zeit zur Ruhe.

Ich bin keine Gefahr für die Welt. Nur für mich selbst. Anders ist es mit der Geschwindigkeit, der Raffgier jenes Systems, nach dem die Welt funktioniert, das ihr aufgezwungen worden ist. Ich bin zwar verrückt genug, um niemals wirklich ohne Hoffnung zu sein, aber in diesem speziellen Fall bin ich geneigt, eine Ausnahme zu machen. Zu eindeutig sind die Signale und auch die Zahlen.

Immer schneller muss man immer größere Netze durch immer entlegenere Meere ziehen, um den Hunger auf Fisch zu stillen. Riesenschiffe wie die zur Pelagic Freezer-Trawler Association gehörende Maartje Theadora, mit einer Länge von 141 Metern und einer Ladekapazität von mehr als 9000 Tonnen, verlassen den überfischten EU-Raum, um an der Westküste Afrikas vor Mauretanien in noch aussichtsreichen Gewässern ihre Raubzüge fortzusetzen. Bis zu 600 Meter sind die Schleppnetze lang, die sie hinter sich durchs Wasser ziehen. Bis zu 250 Tonnen Fisch kann von einem einzigen dieser Netze pro Tag aus dem Meer geholt werden. Das Meer ist also zweifaches Opfer. Auf der einen Seite fischt man raus, was das Zeug hält, auf der einen Seite pumpt man es schonungslos voll mit dem ganzen Dreck unserer Zivilisation.

Im südspanischen Almería hat man bereits in den früher 1950er-Jahren mit intensivem Gemüseanbau begonnen. Inzwischen hat die Anlage von Folien-Gewächshäusern eine Ausdehnung von 350 Quadratmetern erreicht. Die Einheimischen nennen diesen "Landwirtschaftsfreak" Mar de plastico.

Dieses Plastikmeer ist auch in einem ähnlich erbärmlichen Zustand wie sein großes Vorbild. In diesen Hallen kommt Natur so gut wie nicht mehr vor. Mit Düngemitteln, Pestiziden und Fungiziden schafft man Bedingungen, die bis zu drei Ernten in einem Jahr ermöglichen. Kippt das System, versucht man es durch weiteren Einsatz von Chemie zu reparieren. Die meist illegal eingewanderten - und somit erpressbaren - Landarbeiter, die unter diesen ökologischen Ausnahmebedingungen zu einem Hungerlohn arbeiten, runden das Bild, das nur ein Symptom der "Geiz ist geil"-Konsum-Gesellschaft ist zu einem logischen Bogen ab.

Auch die Niederlande produzieren auf ähnlich unnatürliche Weise riesige Mengen von Gemüse. Dieses ist bekannt dafür, optisch allen Idealen zu entsprechen, dafür aber vollkommen geschmacksfrei zu sein. Neuere Untersuchungen haben bewiesen, dass das auf den ausgelaugten Böden der riesigen Produktionsanlagen geerntete Gemüse neben seinem Geschmack auch einen Großteil seiner Nährstoffe verloren hat. So weist zum Beispiel die holländische Glashausgurke gerade noch ein Prozent der eigentlich üblichen Vitamin C Menge auf. Kohlgemüse hat bis zu 40 Prozent seines Vitamingehalts eingebüßt.

Allerdings ist Fleisch aus Tiermasten, und solche sind es ja vor allem, die den riesigen Bedarf decken, weder eine gesunde noch eine moralisch vertretbare Alternative. Wieder ist es massiver Medikamenteneinsatz, der dem Konsumenten zwar theoretisch den einen oder anderen Gang zur Apotheke erspart, denn ein Grundsortiment an pharmazeutischen Produkten nimmt er mit jedem Schnitzel und jeder Wurstsemmel zu sich, aber praktisch führt dieser Umstand natürlich vielmehr ins Gegenteil.

Die Geschwindigkeit der Gegenwart lässt sich allein daran ablesen, wie schnell Produkte und Versionen sich aktualisieren. Man kauft im Laden ein Smartphone, und wenn man sich zu Hause in sein Zimmer zurückzieht, um das Ding in Betrieb zu nehmen, liest man auf dem Bildschirm bereits von der nächsten Version, und darüber, was diese Version besser können wird. Die Freude währt also nur kurz, mündet sofort in Enttäuschung.

So funktioniert das - und führt dazu, dass die Welt von einer durch und durch frustrierten Menschheit bevölkert wird. Aber diese Grundmenge an Unglück ist nicht schlecht, kann man doch für die Zukunft ohnehin nichts erwarten. Den ständig Enttäuschten ist alles recht. Der im Minutentakt steigende Benzinpreis. Die von Wirtschaftgiganten herbeigeführten Katastrophen. Der ständige Lärm auch an Orten, an welchen man früher seine Ruhe hatte. Schlecht gekochtes Essen in den Restaurants. Fußballniederlagen. Alles egal.

Ich selbst telefoniere mit einem alten Handy, weil es einfach nicht kaputtgehen will. Anfangs habe ich bei einer Vertragsverlängerung alle zwölf, jetzt alle 18 Monate ein neues bekommen. Die liegen in einer Schreibtischschublade. Inzwischen sind auch Smartphones dabei. Aber was soll ich damit? Ich brauche keine Apps, die mich auslesen. Ich hatte auch nie das Bedürfnis, in der DDR zu leben.

Warum sollte ich mir ein Gerät in die Jackentasche stecken, das ähnlich funktioniert? Steve Jobs hat die Gehirne der Menschen in Apfelmus verwandelt. Tastaturen verschwinden von den Geräten, den herkömmlichen PC braucht keiner mehr, da man nur noch konsumiert und keine Inhalte mehr selbst herstellt. Auf einem Tablet kann ja kein Mensch schreiben, außer einer, der nicht schreiben kann, demnach mit zwei Fingern nach den Tasten sucht und ständig auf den Bildschirm starrt. Für jeden anderen ist so ein Ding unbrauchbar.

Die mehr als 200 Millionen Videos auf Youtube kann man natürlich bequemer anschauen. Man braucht ja nur mit dem Finger auf den Bildschirm zu tappen. Da hat sich ein Kindheitstraum erfüllt. Ich kann mich noch erinnern, wie es meine Eltern auf die Palme gebracht hat, wenn ich, nachdem ich zu gehen gelernt hatte, mit meinen Fingern ständig über den Fernsehbildschirm schmierte. Das Visionäre meines Tuns haben sie damals nicht erkannt.

Einen kurzen Augenblick lang durfte man 2007, 2008 hoffen, die sogenannte Finanzkrise würde die Entscheidungsträger dazu bringen, Systeme zu überdenken. Allerdings hatten diese sich sofort erholt, kamen aus ihren Ecken, um den großen, aber anscheinend wehrlosen Unterbau ihrer Staaten, das Volk also, anzuzapfen, um die komatösen Bankensysteme, die aufgrund irrsinniger Manöver zu Boden gegangen waren, wieder auf die Beine zu bringen.

Bald wurde die Marschroute ausgegeben, man war wieder auf Kurs: Wirtschaftswachstum. Eigentlich entspricht das gegenwärtige Weltbild, das Weltsystem, das System, wie Österreich seine Pensionen auch in Zukunft bezahlen will, einem Schneeballsystem (in Österreich nach § 168a StGB seit 1. März 1997 verboten). Dieses ist auch auf ständiges Wachstum angewiesen. Es kann nur überleben, wenn laufend neue Verrückte gewonnen werden, die es tragen. So funktionieren wir. Die Bevölkerung der Welt. Die Rennenden. Um uns einer Wahnvorstellung entsprechend abzusichern, müssen wir immer mehr Menschen in das System hinein erzeugen. Dass es für diese aber immer weniger Lebensraum, Nahrung, ökologische Existenzgrundlage, Arbeit und letztendlich Lebensfreude gibt, darüber will keiner etwas hören. Das stelle ich mir bildlich so vor: Da sitzen ein paar Affen in ihren Anzügen, mit korrekt sitzenden Krawatten und Einheitsfrisuren und haben ihre Hände auf Ohren, Augen gelegt. Die Münder bleiben offen. Wir wissen natürlich, warum.

Einige österreichische Politiker sind wegen diverser Geschenkannahmen gehörig unter Druck geraten. Michelle und Jim Bob Duggar aus Arkansas geben dem Ganzen eine neue Dimension. Denn wie sie auf ihrer Homepage, in ihren Büchern, ihren TV-Shows, ihren Vorträgen und ähnlich gewinnträchtigen Aktionen glaubhaft versichern, entscheidet Gott, wie viele Kinder er ihnen schenkt. Inzwischen sind sie bei 19 Geschenken angelangt. Da können sich einige Politiker noch eine Scheibe abschneiden.

Wahrscheinlich ist das eine Verzweiflungsreaktion ihres Gottes über diese Welt. Die Ökokatas-trophen gehen ihm zu langsam, Kriege haben sich als untaugliches Mittel herausgestellt, Naturgewalten sind Kinderkram. Deshalb versucht er es mit Überbevölkerung, bis die Erde hinausschlittert in die unendlichen Weiten. Denn wenn alle an ihn glaubenden, rechnet er, sich eine Unzahl von Kindern von ihm schenken lassen, heißt das bei 2,1 Milliarden Christen und sagen wir zehn Geschenken pro Person, dass die Weltbevölkerung sich innerhalb nur einer Generation um sagenhafte 21 Milliarden pushen lässt. Das, stellt er sich wohl vor, ist erfolgversprechender als alle Chemiefirmen, Gen- und Saatmafiakonzerne, Riesentrawler, in die Luft fliegenden Ölförderanlagen auf dem Festland und im Meer, pervertierte Welt- und Finanzsysteme, die Fukushimas und Tsunamis zusammen. (Mike Markar, Album, DER STANDARD, 5./6.5.2012)