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Demonstranten fordern Ende April in Kiew die Freilassung von Julia Timoschenko.

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Nico Lange: "Untersuchungshäftlinge - prominent oder nicht prominent - erkranken und die Verweigerung medizinischer Behandlung wird genutzt, um die Häftlinge unter Druck zu setzen, sie gefügig zu machen und Geständnisse zu erwirken."

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Quelle: APA

Die ehemalige ukrainische Ministerpräsidentin Julia Timoschenko sitzt seit vergangenem Jahr im Gefängnis. Ihr wird vorgeworfen, den Interessen der Ukraine geschadet zu haben, verurteilt wurde sie wegen Amtsmissbrauchs. Im Gefängnis werde ihr der Zugang zu medizinischen Leistungen verweigert, erklärte Timoschenko. Aus Protest dagegen ist die langjährige Politikerin Ende April in Hungerstreik getreten. Nicht nur prominente politische Häftlinge müssten in der Ukraine unter menschenunwürdigen Bedingungen leiden, sagt Nico Lange von der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Kiew.

derStandard.at: Warum schafft es das Thema der Haftbedingungen von Julia Timoschenko gerade jetzt ins Zentrum der Aufmerksamkeit? Timoschenko wurde im vergangenen Jahr verurteilt und die Kritik an Prozess und Urteil ist eigentlich auch nicht neu.

Lange: Auf der politischen Ebene wird das Thema schon lange besprochen. In der Öffentlichkeit wird es aber erst richtig wahrgenommen, seit Julia Timoschenko in Hungerstreik getreten ist. Und weil der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck öffentlichkeitswirksam eine Reise in die Ukraine abgesagt hat. Das hatte die Absage von zehn anderen Präsidenten zu dem Treffen mitteleuropäischer Staatschefs zur Folge. Im Zusammenhang mit der Fußball-Europameisterschaft entsteht in der Öffentlichkeit eine andere Dynamik.

derStandard.at: Wird der Boykott einiger Politiker Einfluss auf die Haftbedingungen von Timoschenko haben?

Lange: Es geht darum, dass Politiker dem Präsidenten Janukowitsch keine Bühne geben und sich mit ihm nicht während der Fußball-EM auf eine Tribüne setzen. Die Fußball-EM sportlich zu boykottieren würde überhaupt keinen Sinn machen. Aber soweit ich das verstanden habe, soll symbolisch klargemacht werden, dass man nicht mit Janukowitsch vor dem Hintergrund der Menschenrechtsverletzungen und der politisch motivierten Justiz in der Ukraine so tut, als wäre alles in Ordnung.

derStandard.at: Wie könnte Janukowitsch darauf reagieren? Was wäre ein Ausweg?

Lange: Das finde ich sehr bedenklich, dass sich von offizieller ukrainischer Seite - wenn man von einem Sprecher des Außenministeriums absieht - niemand dazu äußert. Die deutsche Bundesregierung hat Janukowitsch eine Brücke gebaut: Er könnte Timoschenko aus humanitären Gründen eine Behandlung in der Berliner Charité gestatten. Das wäre eine Lösung, mit der er sein Gesicht wahren könnte.

derStandard.at: Spiegel Online zitiert Leonid Koschara, den Vizechef der ukrainischen Regierungspartei, der Deutschland vor wirtschaftlichen Folgen der Kritik an der Ukraine warnt. Koschara sagt, deutsche Unternehmen würden es dann schwieriger haben auf dem ukrainischen Markt.

Lange: Ich bin mir nicht sicher, ob es der Ukraine hilft, in der jetzigen Situation Kraftmeierei zu betreiben. Deutsche und andere westliche Investoren haben jetzt schon große Probleme in der Ukraine mit Bürokratie, Korruption und der mangelnden Rechtsstaatlichkeit, um die sich die Diskussion ja dreht. Die Ukraine kann sich meiner Auffassung nach ohne westliche Partner nicht modernisieren. Die Drohung zeigt eher die Ratlosigkeit auf der Seite der ukrainischen Regierungspartei, die mit der Situation ein bisschen überfordert scheint.

derStandard.at: Timoschenko ist in Haft, weil sie Entscheidungen zum Nachteil der Ukraine getroffen haben soll. Ist dieses Gesetz prädestiniert dafür, gegen politische Gegner eingesetzt zu werden?

Lange: Dieses Gesetz ist von Stalin dafür geschaffen worden. Aber auch heute geht es darum, politische Entscheidungen juristisch zu sanktionieren. Das ist ein völliges Unding, egal wie man zu Timoschenko steht. Es geht nicht um die Frage, ob Timoschenko gut oder böse ist. Über politische Entscheidungen muss der Wähler entscheiden, nicht ein Gericht.

derStandard.at: Warum gibt es dieses Gesetz noch? Es wäre auch an Timoschenko gelegen, das zu ändern.

Lange: Es ist bedauerlich, dass die Kräfte der "Orangen Revolution" wie auch alle Vorgänger diese Reformen nicht unternommen haben. Auch die Regierung von Timoschenko hat viel Kritik politischer Art verdient. Aber jetzt wird politisch motivierte Justiz an der Opposition geübt. Nicht nur gegen Timoschenko, sondern gegen viele andere auch. Es herrschen menschenunwürdige Zustände in der ukrainischen Haft.

derStandard.at: Es sind auch andere Minister aus der Timoschenko-Ära in Haft.

Lange: Das Ganze hat in der ukrainischen Justiz System. Untersuchungshäftlinge - prominent oder nicht prominent - erkranken und die Verweigerung medizinischer Behandlung wird genutzt, um die Häftlinge unter Druck zu setzen, sie gefügig zu machen und Geständnisse zu erwirken. Das ist die Weiterführung des alten sowjetischen Justizsystems. 99 Prozent aller Urteile werden zu Gunsten der Staatsanwaltschaft gefällt. Von einem Rechtsstaat und von einer Wahrung der Grundrechte kann man nicht sprechen. Diesmal werden die Zustände in der Justiz aber öffentlich, weil die Häftlinge prominent sind. Aber es gibt tausende Untersuchungshäftlinge, deren Namen wir nicht kennen, die auch unter gesundheitlichen Problemen leiden.

derStandard.at: Wie groß ist die Chance, dass sich die Zustände im Justizsystem jetzt ändern?

Lange: Was diese systematischen Dinge betrifft, kann sich nur etwas ändern, wenn die westlichen Staaten auch nach der Fußball-EM eine klare Haltung, was Menschenrechte und Demokratie betrifft, an den Tag legen. Ich denke, dass die Ukraine sich politisch bewegen muss, damit die Dialogbereitschaft der Europäischen Union bestehen bleibt und Gespräche über eine Annäherung geführt werden können. Die Ukraine hat nicht die Position, der EU zu drohen.

derStandard.at: Auch Russland kritisiert die Haftbedingungen Timoschenkos. Ist Russland nicht auf das Wohlwollen der Ukraine angewiesen, um weiter Gas nach Westeuropa liefern zu können?

Lange: Russland und die Ukraine sind aufeinander angewiesen. Aber ich denke, die Ukraine kann es sich nicht leisten, damit zu drohen, die Gaslieferungen Russlands nicht weiterzuleiten. Das wäre der endgültige Schritt in die absolute Isolation. Es ist allerdings bemerkenswert, dass die Ukraine jetzt gleichzeitig einen Konflikt mit der EU und mit Russland hat. Es gibt eigentlich nur mehr den Ausweg, dass Präsident Janukowitsch diese Frage persönlich löst. Er ist dafür verantwortlich und er muss der Erste sein, der ein Interesse daran hat, seine eigene Position und die der Ukraine nicht zu verschlechtern. Einfach nur zu schweigen kann nicht die Haltung des ukrainischen Präsidenten sein. (Michaela Kampl, derStandard.at, 4.5.2012)