Transportexperten auf gefährlichem Terrain: Mit Tuareg-Pick-ups queren zahlreiche Migranten die Sahara.

Foto: Ines Kohl

"La fraude" ist das französische Wort für Betrug. Bei den Tuareg bezeichnet der Begriff "afrod" illegale Grenzgeschäfte. Rund 1,5 Millionen Tuareg führen im Gebiet von Niger, Mali, Algerien und Libyen seit Jahrtausenden ein nomadisches Leben, in dem sie territoriale Grenzen, die oft erst vor wenigen Jahrzehnten gezogen wurden, mit ihrem Vieh regelmäßig überschreiten. Ein Wort für "Grenze" kennen sie nicht.

Als ökonomisch und politisch benachteiligte Minderheit nutzen sie diese Mobilitätsexpertise seit den 1950er-Jahren für ihr wirtschaftliches Überleben. Mittlerweile werden nicht nur Waren, sondern auch Menschen illegal durch die Sahara transportiert. "Hier vermischen sich Handel, Schmuggel und Migration - die Grenzen zwischen legal und illegal verschwimmen", sagt die Sozialanthropologin Ines Kohl. In ihrem am Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) angesiedelten Projekt "Sahara Connected" beschäftigt sie sich mit den Veränderungen und Folgen dieser Mobilität.

Für viele migrationswillige Afrikaner beginnt die Reise durch die Sahara in der Uran-Stadt Arlit in Niger und endet in Algerien oder Libyen. " Während an den Anfangs- und Endpunkten der Routen auch Araber oder Hausa mitorganisieren und -kassieren, sind die Fahrer nur Tuareg", fand Kohl heraus. Die Fahrt durch die Wüste mit den üblichen Toyota-Pick-ups dauert etwa drei Tage.

Billiger kommt der Transport per Lkws, die allerdings eine andere Route nehmen. "Bis zu 200 Menschen werden hier auf einen Lkw gepfercht, die Fahrt dauert oft zwei Wochen", sagt Kohl. "Da in Algerien die Kontrollen durch den Druck der EU in den vergangenen Jahren sehr streng geworden sind, stoppen die Fahrer ca. 70 Kilometer vor den Zielorten. Dort werden die Passagiere dann von speziellen Führern zu Fuß weitergeleitet. Da man Frauen so lange Fußmärsche nicht zutraut, nehmen viele Fahrer nur Männer mit."

Neue Tuareg-Elite

Die zentralen Akteure des "afrod"-Geschäfts sind die Chauffeure. "Sie bilden durch ihre Mobilität und ihr gutes Einkommen eine Elite in der Tuareg-Gesellschaft", berichtet die Forscherin. Zwischen 2000 und 2005 habe dieses Geschäft geboomt. "Damals blieben viele Fahrzeuge auf der Strecke, nicht wenige Menschen sind in der Wüste verdurstet. Heute ist das Geschäft härter und professioneller, man hat bessere Autos – auch um den Militärs leichter zu entkommen. Durch den Krieg in Libyen und die Rebellion in Mali sind diese Fahrten extrem gefährlich." Zudem hat die EU wegen der illegalen Waffentransporte aus Libyen und aus Angst vor Überfällen der "Al-Kaida im Islamischen Maghreb" (Aqmi) verschärfte Kontrollen in der Sahara vorgeschrieben.

Obwohl die Tuareg traditionell einen sehr liberalen Islam praktizieren, werden ihnen Kontakte zum regionalen Al-Kaida-Ableger nachgesagt. "Falls es diese Kontakte tatsächlich gibt, dann aus wirtschaftlichen Gründen", vermutet Kohl. "Denn Aqmi verfügt über sehr viel Geld und ist im Waffen- und Drogenschmuggel aktiv. Als Chauffeure sind hier wahrscheinlich auch Tuareg beteiligt. Ein gut bezahltes und perfekt organisiertes Geschäft, aber extrem gefährlich."

Trendsetter statt Tradition

Die wohlhabende Elite der Chauffeure mit ihren weit über die eigene Kultur hinausgehenden Erfahrungen wirkt in der Tuareg-Gesellschaft quasi als Trendsetter. "Viele der Fahrer haben Kontakte nach Europa und wissen im Gegensatz zu den gewöhnlichen Sahara-Bewohnern etwa von der Existenz der Menschenrechte", berichtet Kohl. "Natürlich tragen sie auch Modetrends weiter. So spielen etwa körperliche Schönheit und schicke Kleidung eine große Rolle bei den Tuareg. Wer besonders cool daherkommen will, kombiniert die traditionellen indigogefärbten Tücher mit Sonnenbrille und Handy."

Die traditionelle nomadische Lebensweise wird seit den 1960er-Jahren von immer weniger Tuareg praktiziert. Einerseits haben Algerien und Libyen einiges unternommen, um die Nomaden sesshaft zu machen, andererseits wird das wirtschaftliche Überleben in der Sahara auch wegen des Klimawandels immer schwieriger. "Unter Gaddafi ist es vielen Exnomaden in Libyen wirklich gut gegangen", erläutert die Sozialanthropologin. "Er hat ihnen ökonomisch geholfen, um sich damit ihre Loyalität zu sichern. Die Tuareg wurden von Anfang an als militärische Gruppe in den libyschen Staat integriert." Es sei deshalb falsch, sie ausschließlich als " Söldner Gaddafis" zu bezeichnen. "Die meisten Tuareg, die für Gaddafi gekämpft haben, gehörten schon viele Jahre zu seinen Streitkräften."

Nach fast einem halben Jahr "teilnehmender Beobachtung" in Niger und Algerien hat Ines Kohl eine Fülle neuer Erkenntnisse nach Wien mitgebracht. Aber rechtfertigt das die Gefahr, in die sich Europäer in diesen Regionen zurzeit unweigerlich bringen? "Für Touristen oder NGO-Mitarbeiter ist es dort jetzt sicher sehr gefährlich. Ich bin durch meinen Mann und Arbeitskollegen Akidima Effad, dessen Familie in Niger lebt, aber recht gut in die Tuareg-Gesellschaft integriert. Allerdings haben wir uns wegen der häufigen Banditenüberfälle in der Sahara-Sahel-Zone nicht so frei bewegen können wie geplant." (Doris Griesser , DER STANDARD, 02.05.2012)

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Wissen: Rebellion im Norden Malis

Der jüngste Konflikt in Mali hat die Tuareg in die Schlagzeilen gerückt. Mit Waffen und Geld aus Libyen nach dem Sturz Gaddafis gelang es Tuareg-Rebellen, die Kontrolle über den Norden Malis zu erringen. Dort riefen die Rebellen vor einem Monat den Staat Azawad aus, der aber nicht anerkannt wird.

In Malis Hauptstadt Bamako putschten Angehörige des Militärs vor sechs Wochen gegen Präsident Amadou Toumani Touré wegen mangelnder Ressourcen im Kampf gegen die Tuareg. Derzeit gibt es eine Übergangsregierung, doch es gibt weiterhin Gefechte zwischen rivalisierenden Gruppen in Bamako. Die Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas will Truppen schicken, um die Übergangsperiode zu überwachen. (raa)