Der Bioethiker Norbert Alzmann ist seit März auch am Messerli Forschungsinstitut an der Vetmeduni tätig.

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In den beratenden Gremien zur Genehmigung von Tierversuchen entscheiden ethisch nicht geschulte Fachleute die Frage der ethischen Vertretbarkeit öfter nach Intuition und Bauchgefühl, als nach wissenschaftlichen Kriterien. Immer wieder werden daher Vorwürfe laut, dass die Ergebnisse zu subjektiv und unterschiedlich ausfallen. Der Bioethiker Norbert Alzmann, der seit März am Messerli Forschungsinstitut in Wien arbeitet, berichtet im Interview mit derStandard.at, warum es wichtig ist, dass die Wissenschaft hier einen Leitfaden anbietet. Außerdem gibt er einen Überblick über Alternativen zu Tierversuchen, den langen behördlichen Weg bis zu deren Anerkennung und das Schmerzempfinden bei Tieren.

derStandard.at: Tierversuche in der Medizin sind ein Feld zwischen Uneindeutigkeiten und Unentscheidbarkeiten: Forscher, die einen Tierversuch beantragen, sind zwar per Gesetz gezwungen, sich mit ethischen Fragestellungen auseinanderzusetzen, es gibt jedoch keine klaren Orientierungen hinsichtlich der moralischen Verantwortung. Gibt es hier Kriterienkataloge, an denen man sich orientieren kann, oder Werkzeuge - und wenn ja, wie sehen diese aus?

Alzmann: In der Ausbildung der Mehrzahl der Wissenschaftler, die dem Bereich der Biologie, Humanmedizin, Veterinärmedizin, Pharmakologie und weiteren naturwissenschaftlichen Disziplinen entstammen, wird Ethik nicht gelehrt. Ethik ist eine Wissenschaft und nicht etwa eine subjektive Einstellung. Die Medizinethik ist zwar im Studium der Humanmedizin fest etabliert, befasst sich aber in der Regel mit der Forschung am Menschen.

Es gibt solche Kriterienkataloge als Hilfestellung zur Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchsvorhaben. Einige dieser Kataloge wurden entwickelt, um dem festgestellten Defizit an ethischer Expertise der antragstellenden Forscher wie auch der begutachtenden und genehmigenden Gremien entgegenzuwirken und sie in ihrem Bewertungsprozess zu unterstützen. Ziel ist eine transparente, intersubjektiv vergleichbare Aussage.

derStandard.at: Es gibt das sogenannte 3R-Prinzip: Reduktion (reduction), Verfeinerung (refinement) und Ersatz (replacement) der Tierversuche. Wie gut greift dieses Prinzip?

Alzmann: Die genannten Prinzipien sind ein integraler Bestandteil allen Forschens und auch im österreichischen Tierversuchsgesetz fest implementiert: Hier wird eingangs im Paragraf 1 das Ziel formuliert, die Zahl der Tierversuche zu reduzieren und Ersatzmethoden zu fördern. So ist auch einer der leitenden Grundsätze des Gesetzes, die Aussagekraft und Anwendbarkeit von Tierversuchsmodellen laufend kritisch zu überprüfen und an den anerkannten Stand der Wissenschaften anzupassen.

Damit trägt auch der einzelne Wissenschaftler eine ethische und wissenschaftliche Verantwortung, nach Alternativen zu suchen. Gibt es keine, sind die schonendsten Versuchstechniken zu verwenden. Unabdingbar ist dafür eine stete Weiterbildung der Personen, die Tierversuche planen und durchführen, sowie der Tierpfleger. Um die Verantwortlichen in diesen Aufgaben zu unterstützen, erarbeiten wir im Rahmen eines Projekts am Messerli-Forschungsinstitut in Wien Hilfestellungen.

derStandard.at: Gibt es Datenbanken, wo die wissenschaftlichen Ergebnisse zu diesem Thema zugänglich sind und verglichen werden können?

Alzmann: Hilfreich sind u.a. die Datenbank über Alternativmethoden AnimAlt-ZEBET sowie die weltweit erste wissensbasierte Suchmaschine für Alternativmethoden go3R.org. Ein aktueller umfassender Search Guide ist untergliedert abrufbar auf der Seite des Forschungszentrums der Europäischen Kommission, eine Druckversion ist ab Mai erhältlich.

Hilfreich ist auch die Datenbank von mit Alternativmethoden forschenden Arbeitsgruppen auf invitrojobs.com. Eine solche Datenbank wäre auch für den Bereich der tierexperimentell arbeitenden Gruppen wichtig, denn bisweilen wird erst nach Jahren des Forschens bekannt, wo an welchen Fragestellungen gearbeitet wird, sofern die Ergebnisse überhaupt publiziert werden.

Dies könnte überflüssige Doppelversuche vermeiden. Kritiker weisen darauf hin, dass "negative results" in der Regel nicht veröffentlicht werden, was aber helfen würde, um erfolglose Ansätze nicht andernorts zu wiederholen. Eine entsprechende Datenbank wäre auch im Hinblick auf eine Qualitätskontrolle relevant. Nebenbei, Tierversuche sind sehr teuer und mit vielen bürokratischen Hürden belegt, daher überlegen sich Forschungsinstitutionen und Unternehmen sehr gut, ob ein Tierversuch wirklich nötig ist.

derStandard.at: Befürworter von Tierversuchen argumentieren öfters, dass sich das Schmerzempfinden von Menschen und Tieren so stark unterscheidet, dass es nicht vergleichbar ist. Wie legitim ist diese Aussage?

Alzmann: Mit diesem Argument wären ja die Tierversuchsanträge der eigenen Kollegen im Bereich der Schmerzforschung in Bezug auf menschliche Erkrankungen völlig obsolet. 

Wer die qualitativen Unterschiede zwischen Mensch und Tier betont oder gar eine qualitative Kluft annimmt, nimmt die Arbeiten von Charles Darwin zur Evolution nicht ernst. Weil es im Tierreich, das den Menschen ja mit einschließt, aber nur graduelle Unterschiede zwischen einzelnen Aspekten gibt, kann man mit Hilfe des Analogieschlusses auf Leiden bei Tieren schließen.

Das Ausmaß eines subjektiven Schmerzempfindens lässt sich naturwissenschaftlich nicht direkt messen. Dennoch kann man mit Hilfe von physiologischen Messungen und Verhaltensbeobachtungen bei uns evolutionär näherstehenden Tieren plausible Antworten auf die Frage nach Leiden finden. Schwieriger wird es dort, wo die Tiere uns immer weniger ähnlich sind, beispielsweise bei den wirbellosen Tieren. Aber auch hier geben uns die Biologen Antworten. 

derStandard.at: Ein Aspekt, der auch in der neuen EU-Tierversuchsrichtlinie berücksichtigt wurde.

Alzmann: Ja, nicht ohne Grund sind in der neuen EU-Tierversuchsrichtlinie von 2010 nicht nur die Wirbeltiere von den Regelungen erfasst, sondern auch die wirbellosen Kopffüßer wie beispielsweise die Tintenfische. Meinungen und Fehlannahmen über das Schmerzempfinden verschiedener Tierarten halten sich erstaunlich hartnäckig. So gab es bis vor einigen Jahren immer noch Zweifler daran, dass auch Fische - die als Wirbeltiere vom österreichischen Tierversuchs- und vom Tierschutzgesetz erfasst sind - ein Schmerzempfinden haben.

Und eines lehrt uns die Animal Welfare Science und unsere eigene schlichte Alltagserfahrung: dass Wohlbefinden mehr ist als die Abwesenheit von Schmerzen und Leiden. Dies gilt in der Nutz- und Heimtierhaltung ebenso wie in der Haltung von Versuchstieren. Das macht es unabdingbar, die artspezifischen Bedürfnisse der Versuchstiere sowie die Bedürfnisse des individuellen Tieres zu kennen und diesen gerecht zu werden.

derStandard.at: Sie halten ethische Abwägungen, die nur Faktoren umfassen, die direkt in Zusammenhang mit dem eigentlichen Versuch stehen, für problematisch. Welche Versäumnisse gibt es noch?

Alzmann: Das ist richtig, denn diese Sichtweise blendet alle übrigen Belastungen der Versuchstiere aus, etwa die Belastungen, die durch die Zucht, durch den Transport und durch die Haltungsbedingungen entstehen. Sie blendet aber auch weitere Aspekte aus wie die sinnesphysiologische Ausstattung der Tiere oder die Anzahl und Belastungen der im Vorfeld der eigentlichen Versuchslinie eingesetzten Zuchttiere.

Bei der prospektiven, also der im Vorhinein vorzunehmenden Einschätzung des Schweregrads der Belastungen der Versuchstiere gibt es Unsicherheiten. Diese Einschätzung ist aber einer der wichtigsten Aspekte in der Güterabwägung, die vor einer Versuchsgenehmigung durchzuführen ist. In Deutschland ist in jeder Einrichtung ein Tierschutzbeauftragter zu bestellen, dessen Expertise sich bei der Belastungseinschätzung wie auch bei der Beratung des Forschers im Hinblick auf eine Reduktion der Belastungen als sehr hilfreich erweist.

derStandard.at: Apropos Güterabwägung: Sie haben in Ihrer Dissertation auf die Problematik von Ethik-Kommissionen hingewiesen. Darin sitzen meist keine Menschen, die Erfahrung mit systematischen ethischen Betrachtungen haben, sondern ethische Laien, die nach ihrer Intuition entscheiden. Welche Problematiken ergeben sich dadurch?

Alzmann: Eine Umfrage zur Tätigkeit von Genehmigungsbehörden und der beratenden
Kommissionen im Jahre 2006 in Deutschland hat ergeben, dass Kommissionsmitglieder bei der Frage der Bewertung der ethischen Vertretbarkeit am häufigsten nach der Intuition bzw. dem eigenen moralischen Empfinden entschieden haben. Nun wird aber bisweilen der Einwand erhoben, dass diese Intuitionen der Wissenschaftler stark von ihrer eigenen tierexperimentellen Tätigkeit geprägt sind.

Ein weiterer Vorwurf ist neben der Subjektivität die Unterschiedlichkeit der Entscheidungen in verschiedenen Kommissionen. Um solchen Kritikpunkten zu begegnen und um entgegenzuwirken, dass Forscher einen abgelehnten Antrag in einem anderen Zuständigkeitsbezirk noch einmal einreichen, wo dann gegebenfalls konträr entschieden wird, wurden in verschiedenen europäischen Ländern eigens Kriterienkataloge als Hilfestellung für solche Kommissionen entwickelt.

derStandard.at: Wie sinnvoll sind viele medizinische Tierversuche noch angesichts der Tatsache, dass immer wieder Fehler auftreten und Produkte vom Markt genommen werden müssen? Schon in den 70er Jahren wiesen Forscher zum Beispiel nach, dass die Ergebnisse des Draize-Tests, bei dem Kaninchen die Testsubstanz ins Auge gerieben wird, unzuverlässig sind. Der Grund: Das Kaninchenauge ist anatomisch und chemisch-physikalisch nur bedingt mit dem menschlichen Auge vergleichbar.

Alzmann: Mit letzter Sicherheit lässt sich eine bestimmte Wirkung, das Ausmaß dieser Wirkung sowie das Auftreten von unerwünschten Nebenwirkungen nur an der jeweiligen Zielspezies erkennen. Menschen sind keine großen Ratten. Jede Spezies hat ihre artspezifischen Reaktionen auf verabreichte Substanzen.

Im Rahmen der Sicherheitsprüfung von Chemikalien wurde die Prüfung des Augenreizungspotenzials am Kaninchenauge, der sogenannte Draize-Test, von der OECD als internationaler Standard festgeschrieben. Seit September 2009 gestattet die OECD jedoch in-vitro-Tests an isolierten Rinder-Hornhäuten aus Schlachtabfällen. Dieser BCOP-Test (Bovine Corneal Opacity and Permeability) zur Substanztestung auf starke Augenreizung kann als Ersatz für die entsprechenden In-vivo-Tests an den Kaninchenaugen eingesetzt werden.

Damit dieser Test von interessierten Instituten auch durchgeführt werden kann, hat die BASF SE in Ludwigshafen das notwendige Equipment entwickelt und stellt dieses quasi zum Selbstkostenpreis zur Verfügung. Des Weiteren ist ein in vitro-Test mit Hühner-Augen aus Schlachtabfällen (Isolated chicken eye test, ICE) ebenfalls seit September 2009 akzeptiert. Für die Testung leicht augenreizender und nichtreizender Wirkung von Substanzen befinden sich derzeit rekonstruierte dreidimensionale Cornea-Modelle aus menschlichem Gewebe in der Validierungsphase beim Europäischen Zentrum für die Validierung von Alternativmethoden (ECVAM).

derStandard.at: Welche Prüfungen muss eine Methode, die ohne Versuche am lebenden Tier auskommt und sich als praktikabel erwiesen hat, noch durchlaufen?

Alzmann: Es dauert lange, bis ein Ersatzverfahren eine behördliche Anerkennung erfährt. Gut lässt sich dies an der Aufnahme des in-vitro-Pyrogentests als Alternative zum Tierversuch in das Europäische Arzneibuch im Jahre 2010 nachzeichnen: Der Test, der anhand menschlichen Blutes in vitro die Pyrogenität von medizinischen Produkten überprüfen kann, das ist eine als unerwünschte Nebenwirkung auftretende fiebererzeugende Wirkung, durchlief einen vier Jahre dauernden europaweiten Validierungsprozess.

In diesem wurde seine Eignung nachgewiesen, bevor er schließlich etwa fünf Jahre später auch behördlich als Ersatzverfahren anerkannt wurde. Nun kann der Test jährlich allein in Europa Zwei- bis Vierhunderttausend Kaninchen ersetzen, an denen die Pyrogenfreiheit von injizierbaren Arzneimitteln bislang standardmäßig getestet wurde. Inzwischen wurde das Anwendungsgebiet des Tests ausgedehnt, so kann die Pyrogendetektion auf Oberflächen von Implantatmaterialien oder zur Messung der Luftqualität verwendet werden.

derStandard.at: Von Tierversuchs-Kritikern kommt das Argument, dass sich die medizinische Forschung sogar besser entwickelt hätte, wenn schon vor vielleicht 50 Jahren Tierversuche verboten worden wären. Dann wären nämlich die Forschungsgelder, die heute überwiegend in Tierversuche investiert werden, in die tierversuchsfreie Forschung geflossen. Wie sehen Sie diese Argumente?

Alzmann: Dass tierversuchsfreie Forschung finanziell besser gefördert wird, wäre wünschenswert. Die neue EU-Tierversuchsrichtlinie fordert in diesem Bereich auch entsprechende Anstrengungen der Mitgliedsstaaten, alternative Ansätze zu fördern und die diesbezüglichen Informationen zu verbreiten. 

Im Nachhinein eine Aussage zu treffen, wie eine Entwicklung verlaufen wäre, wenn Weichenstellungen anders vorgenommen worden wären, ist spekulativ. Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch das oft vorgebrachte Argument, dass die innovative Kraft, der Ideenreichtum und schlicht die "Manpower" den Bereich der Ersatzmethoden sicherlich noch weiter vorangebracht hätte, wenn sich diesem Bereich auch mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zugewandt hätten. Und dazu benötigt es - gerade bei Nachwuchsforschern - auch deutliche Anreize.

derStandard.at: Es gibt bereits vielversprechende Alternativen wie die In-vitro-Kultur von menschlichen Zellen, Computermodelle und Biochips, die die Wirkung einer Substanz anhand des elektrischen Widerstands von Zellen ermitteln. Welche Entwicklung erwartet uns hier in den kommenden Jahren?

Alzmann: Der Bereich der Alternativ- und Ersatzmethoden verzeichnet enormen Zuwachs und es arbeitet eine Vielzahl an Instituten daran, diese Möglichkeiten zu erweitern. So ist es bereits gelungen, mittels Techniken aus dem Bereich der Zellkulturforschung in Verbindung mit Mikrofabrikationstechniken aus der Computerindustrie sogenannte "Organs-on-a-Chip" zu entwickeln mit dem Ziel, an komplexen menschlichen Geweben etwa die Wirkung von pharmakologischen Substanzen zu testen.

Ein Forschungsbereich, in dem vor allem in Übersee ein rasanter Paradigmenwechsel hin zu tierversuchsfreien Verfahren vollzogen wird, ist der Bereich der Toxikologie: aus Kostengründen, Gründen der Effizienz und der verbesserten Aussagekraft. In anderen Bereichen verhält man sich eher konservativ. (Julia Schilly, derStandard.at, 27.4.2012)