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Ist Tourismus am Ort der bisher größten Atomkatastrophe moralisch zulässig?

Foto: Verena Schmitt-Roschmann/dapd

Kiew - Die einst gut ausgebaute Landstraße, die vom militärisch bewachten Kontrollposten am Eingang der 30-Kilometer-Sperrzone in die Stadt Prypjat führt, ist voller Schlaglöcher. Das ist nicht ungewöhnlich, die Region ist seit vielen Jahren verlassen. Es ist ganz allgemein nicht ungewöhnlich für Straßen in dieser Ecke der Welt. Ungewöhnlich ist, dass die vielen Schlaglöcher auf dieser Straße akkurat viereckig sind.

Auf dem zentralen Platz des Dorfes Tschernobyl, gleich um die Ecke vom Tourismus- und Dokumentationszentrum der Sperrzone, löst sich das Rätsel der akkuraten Schlaglöcher auf. Arbeiter füllen die ausgefrästen Löcher mit heißem Teer. Die Todeszone macht sich schick für das Jahr der Fußball-EM. Das war der Eindruck vor etwas mehr als einem Jahr, bei einer Recherchereise anlässlich des 25. Jahrestags des Unglücks vom 26. April 1986.

Den Zusammenhang zwischen dem Sportereignis und dem bislang größten Atomunfall der Welt hat die ukrainische Regierung hergestellt. Sie hatte im Herbst 2010 angekündigt, den Zugang zur Sperrzone zu erleichtern. Im Blick hatte sie dabei Touristen, die bei der EM mehr sehen wollten als Fußball und orthodoxe Kirchen. Mehrere Agenturen bieten seit Jahren von Kiew aus Touristenreisen an. Es gibt sogar ein Hotel in Tschernobyl. Zur EM sollte das Angebot massiv ausgeweitet werden. Das Zivilschutzministerium signalisierte Zustimmung.

Tourismus dank Gesetzeslücke

Dabei war Tourismus in der Todeszone nie geplant, die Agenturen nutzen eine Gesetzeslücke. 2008 bereisten nach inoffiziellen Zahlen 5655 Menschen die Zone, 2010 waren es schon 8500. Der Preis für eine Kleingruppentour stieg von 300 auf über 1000 Euro.

Der Fehler der Regierung war, das Thema auf die offizielle Agenda zu heben. Sofort entbrannte eine Diskussion über moralische Zulässigkeit und juristische Absicherung. Im Juni 2011 wurde Touristen der Zutritt zur Sperrzone verboten. Erst seit vier Wochen sind die Touren wieder erlaubt. Von gezielter Vermarktung ist in Kiew heute keine Rede mehr.

Das Ausbessern der Straßen war trotzdem nicht umsonst. Alexander Kleinberger aus Klagenfurt, der die deutschsprachige Version von pripyat.com betreut, berichtet, die Arbeiten an der Infrastruktur dienten nicht der Tourismus-, sondern der Atomindustrie. "Das ganze Gebiet fungiert als riesiges Atommüll-Endlager", erklärt der Slawistikstudent. Zu den Tschernobyl-Altlasten komme bald ein Zwischenlager für verbrauchte Brennstäbe aus anderen AKWs. Außerdem hätten die Arbeiten an der zweiten Schutzhülle für Reaktor Nummer 4 begonnen, die vier Tschernobyl-Reaktoren würden zurückgebaut. "Für all das braucht es funktionierende Straßen, Stromleitungen und so weiter", sagt Kleinberger. (Oliver Heil, DER STANDARD, 26.4.2012)