Wenn Tayyip Erdogan wahrmacht, was Politiker seiner Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) munkeln, und 2014 ins Präsidentenamt wechselt für weitere fünf oder gar zehn Jahre an der Macht, dann ist er der derzeit plausibelste Anwärter auf das Amt des türkischen Regierungschefs: Ali Babacan (45), Vater des türkischen Wirtschaftsbooms, international angesehen - und ohne eigene politische Hausmacht. Das ist wichtig für Erdogan, der seinen Einfluss über Partei und Parlamentsfraktion mit ins nächste Amt nähme.

In einem gut einstündigen Gespräch mit ausländischen Journalisten in Ankara lieferte Babacan, seit 2009 einer der drei Vizepremiers, dieser Tage ein Beispiel für seine Vielseitigkeit und wechselte mühelos von Eurokrise über das iranische Atomprogramm und Bashar al-Assads "Sturheit" zur umstrittenen türkischen Schulreform. Seine Botschaft: Die Türkei ist der Schrittmacher - schneller bei den Finanzreformen als viele europäische Länder; schneller bei der Demokratisierung als die Nachbarn in der arabischen Welt.

"Ein starker Bankensektor und starke öffentliche Finanzen unterscheiden uns von vielen Ländern, die heute leiden", erklärte Babacan. "Die Strukturreformen, die wir rechtzeitig unternommen haben, beschützten uns vor dem, was heute in vielen europäischen Ländern passiert." Während die meisten EU-Länder auf dem Höhepunkt der globalen Finanzkrise 2009 Konjunkturprogramme auflegten, um die Wirtschaft anzukurbeln, habe sich die Türkei für Schuldenabbau entschieden. "Das hat ziemlich gut funktioniert", sagt Babacan, Sohn eines Textilunternehmers in Ankara.

Die türkische Wirtschaft wuchs 2010 um elf, 2011 um mehr als acht Prozent. Die EU-Finanzkrise werde der Türkei auch nichts anhaben, versichert Babacan, als Vizepremier für die Wirtschaft zuständig. Wenn der Worst Case nicht eintrete - Kollaps einer großen Volkswirtschaft wie Italien oder Spanien -, werde der Türkei 2012 eine weiche Landung des Booms gelingen, mit vier Prozent plus.

Ebenso selbstbewusst wie pragmatisch sieht er die festgefahrenen Beitrittsverhandlungen mit der EU. "Wir fühlen uns nicht unter Druck", sagt er. Die Anforderungen der einzelnen Verhandlungskapitel, gleichgültig, ob sie blockiert sind oder nicht, seien "hilfreich" für den Reformprozess in der Türkei. Diese Reformen hätten die Demokratie in der Türkei "nicht perfekt, aber fortgeschrittener" gemacht, als sie vor dem Antritt der AKP-Regierung vor bald zehn Jahren war. "Im Justizbereich hinken wir hinterher", räumt Babacan ein, auf wirtschaftlichem Gebiet suche sich die Regierung aus dem Aufgabenkatalog der EU aus, was ihr passe. So seien die arbeitnehmerrechtlichen Auflagen aus dem Kapitel Sozialpolitik und Beschäftigung derzeit "nicht gut für uns".

Das größte Defizit sieht Babacan in der Bildung. Die heutige türkische Arbeitnehmerschaft zwischen 25 und 65 habe im Durchschnitt nur sechseinhalb Schuljahre hinter sich. Die neue Schulreform mache zwölf Jahre zur Pflicht. Die Öffnung religiöser Gymnasien für jüngere Schüler sieht er als Beitrag zur "Flexibilität". "Wir haben vier oder fünf Kabinettsmitglieder von den Imam-Hatip-Schulen. Sie tun nicht weh", bemerkte er ironisch.

Babacan, der in den USA Management studierte und 2007 bis 2009 auch Außenminister war, sieht die EU als Wertegemeinschaft. Daraus entwickelt er ein starkes Argument: Würde die EU am Ende eine Türkei, die alle Auflagen erfüllt hat, nicht aufnehmen, würde dies in der Welt als ein Fehlschlag der Demokratien wahrgenommen werden. "Ein Beitritt der Türkei würde Europas internationales Gewicht verstärken." (Markus Bernath aus Istanbul, DER STANDARD, 25.04.2012)