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Deutschlernen als freiwillige Übung: Ab sofort dürfen türkische Staatsbürger, die mit Österreichern verheiratet sind, sowie deren Kinder nicht zur Integrationsvereinbarung gezwungen werden.

Foto: AP/Finck

Wien - Der Spruch des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg ist mehr als fünf Monate alt, doch erst jetzt sorgt er für Aufregung. Denn was das höchste EU-Gericht am 15. November 2011 im Fall des in Oberösterreich lebenden Türken Murat Dereci erkannt hat, führt dazu, dass Türken, die mit Österreichern verheiratet sind, sowie Kinder aus solchen Verbindungen (wenn sie einen türkischen Pass haben), von einer ganzen Reihe strenger Fremdenrechtsbestimmungen befreit sind. Für den Fall, dass sie nach Österreich ziehen wollen.

Für sie ab sofort gestrichen sind Deutschlernpflichten und die Integrationsvereinbarung, der Nachweis eines gesicherten Einkommens, einer passenden Unterkunft und einer Sozialversicherung, die Altersgrenze von 21 Jahren, wenn sie als Ehepartner einreisen wollen, sowie das Gebot, ihren Antrag auf Aufenthalt nicht in Österreich, sondern von außerhalb zu stellen.

Assoziationsabkommen: Stillhalteklausel mit Türkei

Grund dafür: Laut dem Luxemburger Höchstgericht besagt eine Stillhalteklausel im Assoziationsabkommen der Türkei mit der EU, dass alle Fremdenrechtsänderungen nach dem EU-Beitritt Österreichs 1995 auf türkische Angehörige von Österreichern nicht anwendbar sind. Da es seither mehr als ein Dutzend einschlägige Novellen gab, ist damit eine Vielzahl von Bestimmungen gemeint.

"Die Regierung sollte diesen Spruch zum Anlass nehmen, um gesetzlichen Zwang wie Deutschlernen bei Ausweisungsgefahr zu hinterfragen - für alle Migranten", meint dazu Grünen-Integrationssprecherin Alev Korun. Sie stellte das Urteil am Montag im Rahmen einer Pressekonferenz vor. Dass dessen Folgewirkungen fast ein halbes Jahr unbekannt blieben, hänge "wohl auch mit dem herrschenden mangelnden EU-Rechtsbewusstsein zusammen", sagte dort Rechtsanwalt Helmut Blum. Er hat das EuGH-Urteil mit seinem Klienten Dereci erwirkt.

Für diesen hatte nicht der Spracherwerb, sondern die Möglichkeit, seinen Antrag auf Aufenthalt ohne Rückkehr in die Türkei stellen zu können, den Ausschlag gegeben, sich 2006 an Blum zu wenden. Drei Jahre davor als Asylwerber nach Österreich gekommen, hatte er eine Hiesige geheiratet; vor 2006 hatte er damit das Recht, in Österreich Niederlassung zu beantragen.

2006 plötzlich illegal

Also legte er seinen Asylantrag zurück, doch mit der Fremdenrechtsnovelle 2005 wurde der Inlandsantrag übergangslos gestrichen. Von einem Tag auf den anderen war er illegal hier: Ein Rechtsstreit begann, der letztlich dazu führte, dass der Verwaltungsgerichtshof dem EuGH die Sache zur Klärung vorlegte.

Das nunmehrige Urteil gilt für die gesamte EU: "Wo immer es ähnliche, nach Unionsbeitritt eingeführte Fremdenrechtsregelungen gibt, sind Türken von ihnen ausgenommen", erläutert der EU-Rechtsexperte Gerhard Muzak von der Universität Wien. Im Innenministerium sieht man zu grundlegenden Neuerungen trotzdem keinen Anlass: "Die EuGH-Judikatur ist eindeutig, wir wenden sie an. Für die Betroffenen wird der Vollzug neu geregelt", kommentiert dort Sprecher Karl-Heinz Grundböck. Aus dem Büro von Integrationsstaatsekretär Sebastian Kurz (ÖVP) war zu erfahren, dass "Deutschlernen nach wie vor im Zentrum von Integrationsmaßnahmen stehen wird". Laut Innenministerium hätte die Neuregelung im Jahr 2011 genau 765 Personen betroffen. Im selben Jahr sind rund 5000 türkische Staatsbürger nach Österreich gezogen. (Irene Brickner, DER STANDARD, 24.4.2012)