Christine Lüders leitet die deutsche Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS).

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Frauen und Bewerber mit Migrationshintergrund gehören zu den Profiteuren von anonymisierten Bewerbungsverfahren. Das ist das Ergebnis eines Pilotprojekts in Deutschland. Warum auch ältere Arbeitnehmer profitieren würden und nicht zuletzt Unternehmen selbst, erklärt Christine Lüders, die das Projekt als Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS) verantwortete, im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Bei der Studie ist davon die Rede, dass vor allem Frauen und Personen mit Migrationshintergrund von anonymisierten Bewerbungsverfahren profitieren. Lässt sich das mit Zahlen konkretisieren?

Lüders: Nein, dazu ist die Ausgangslage in den verglichenen Unternehmen zu unterschiedlich. Die Forscher haben aber Tendenzen festgesellt, und das ist schon beachtlich angesichts der Tatsache, dass die beteiligten Unternehmen sehr international und auf Vielfalt ausgerichtet sind. Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund haben demnach im anonymisierten Bewerbungsverfahren bessere Chancen auf eine Einladung zum Bewerbungsgespräch.

derStandard.at: Worauf basieren diese Rückschlüsse?

Lüders: Auf der einen Seite auf den qualitativen Interviews mit den Personalverantwortlichen und auf der anderen Seite auf quantitativen Untersuchungen.

derStandard.at: Gibt es noch andere Gruppen, die profitieren?

Lüders: Die Forscher haben sich aufgrund der vorliegenden Daten vor allem mit Frauen und Migranten auseinandergesetzt. Es hätte uns natürlich auch interessiert, wie es bei älteren Menschen aussieht. Gerade diese Gruppe beklagt sich bei uns, der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, sehr oft über Diskriminierung. Wir konnten hier aber leider zu wenige aussagekräftige Daten generieren, da die Bewerber bei einigen Verfahren eher jüngere Menschen waren, etwa Auszubildende.

derStandard.at: Glauben Sie, dass sich die Chancen von älteren Arbeitnehmern so erhöhen lassen?

Lüders: Ich bin ganz sicher, dass in diesem Bereich anonymisierte Bewerbungsverfahren greifen, das bestätigen auch mehrere internationale Studien. Personalverantwortliche sehen nicht, dass der Bewerber beispielsweise 55 Jahre alt ist, was oft schon zu einer Aussortierung führt. Bei diesen Fragebögen steht dann etwa "Vier Jahre Studium Jura" oder drei Jahre diese oder jene Tätigkeit. Bei älteren Arbeitnehmern stehen vielleicht ein paar Angaben mehr drinnen, aber ein Personaler schafft es nicht, sich ein direktes Alter auszurechnen.

derStandard.at: Das heißt, dass bei solchen Bewerbungen alle Jahreszahlen eliminiert werden und es keine Möglichkeit gibt, Rückschlüsse zu ziehen?

Lüders: Wenn man unseren Fragebogen nimmt, dann wird der Bewerber angewiesen, wie und wo er welche Angaben eintragen muss. Jahreszahlen kommen nicht vor, nur die Dauer von Tätigkeiten. Etwa "Anwaltskanzlei zwei Jahre" und so weiter.

derStandard.at: Wenn die erste Hürde, das Bewerbungsschreiben selbst, als Diskriminierungsmechanismus wegfällt, kommt ja das zweite Hindernis, das Gespräch. Greifen dann nicht die gleichen Vorurteile?

Lüders: Wir alle haben Klischees im Kopf. Beispielsweise, dass ein Türke angeblich generell nicht gut Deutsch spricht. Doch dann kommt ein Mann zum Gespräch, der blendend qualifiziert ist und Ihnen mit akzentfreiem Deutsch Ihr Unternehmen erklärt - dann sind Sie überrascht, weil Sie andere Erwartungen hatten. Gerade dieser Aha-Effekt ist es, der viele Personaler davon überzeugt, dass das Verfahren sinnvoll ist. Der Bewerber mit Migrationshintergrund wäre sonst vielleicht ja gar nicht beim Bewerbungsgespräch gelandet. Eines ist aber klar: Wenn Menschen vorsätzlich diskriminieren wollen, können sie das immer tun. Meistens wird aber unterbewusst diskriminiert, weil Klischees wirken. Die gilt es zu verhindern.

derStandard.at: Laut einer Untersuchung werden Personen mit türkisch klingenden Namen bei Bewerbungen ganz klar diskriminiert.

Lüders: Sie haben in klassischen Verfahren deutlich schlechtere Chancen, zu einem Einladungsgespräch eingeladen zu werden. Doch nicht nur der Name kann Emotionen auslösen, die von der Qualifikation des Bewerbers ablenken. Auch Fotos sind problematisch: Jeder schaut bei klassischen Bewerbungen zuerst auf ein Bild, ganz unbewusst. Beim Pilotprojekt war spannend, dass die Involvierten auch sich und ihre Rekrutierungsprozesse hinterfragt haben. Alleine die eigenen Vorurteile kritisch zu hinterfragen ist ein wertvoller Prozess, der zum Überdenken eines Bewerbungsverfahrens, das nicht mehr zeitgemäß ist, führen kann.

derStandard.at: Wie soll es nach der Studie weitergehen? Wollen Sie anonyme Bewerbungsverfahren standardisiert in ganz Deutschland einsetzen?

Lüders: Nein. Jedes Unternehmen, jede Verwaltung und jede Organisation kann und sollte für sich selbst entscheiden, welcher Weg am besten geeignet ist. Wir verstehen uns als Impulsgeber - und freuen uns darüber, dass wir einen Stein ins Rollen gebracht haben. Wir haben bereits sehr viele Anfragen. Viele Firmen wollen auch ein eigenes Branding setzen, indem sie Gruppen von Bewerbern signalisieren: "Wir wollen euch. Habt Mut und bewerbt euch."

derStandard.at: Dieser Umdenkprozess, den Sie in Gang setzen möchten, soll ohne gesetzliche Verpflichtung auskommen?

Lüders: Ja, und das funktioniert schon recht gut. Wir haben eine breite Diskussion angestoßen. Und vier unserer acht Projektpartner machen mit anonymisierten Bewerbungsverfahren weiter.

derStandard.at: Manche Unternehmen argumentieren, dass sie bei anonymen Bewerbungen ja nicht mehr gezielt Migranten oder Frauen fördern könnten.

Lüders: Das können sie selbstverständlich machen. Sie können beispielsweise anonymisiert ausschreiben und sagen: "Wenn Sie MigrantIn sind, teilen Sie uns das mit." Etwa über das simple Ankreuzen eines Kästchens. Das sollte den Bewerbern freigestellt werden, denn manche lehnen das auch ab.

derStandard.at: Sind Sie der Meinung, dass Unternehmen letztendlich bessere Mitarbeiter rekrutieren, weil das ganze Gewicht auf die Qualifikation gelegt wird?

Lüders: Firmen profitieren von Vielfalt, das belegen mehrere Studien ganz eindeutig. Es ist ja auch ein gutes Zeichen, wenn ein Unternehmen nach innen wie nach außen aussendet: Wir geben allen Menschen die gleiche Chance. Und vielleicht bekommen sie dann Gruppen, die sich vorher gar nicht bei ihnen beworben hätten.

derStandard.at: Laut einer Umfrage, die Teil der Studie war, gibt es mehr Befürworter als Gegner von solchen Verfahren.

Lüders: Wir haben ein Forschungsinstitut mit einer repräsentativen Umfrage beauftragt. Demnach favorisiert die Mehrheit der Befragten anonyme Bewerbungen. Und die Mehrheit jener Leute, die sich im Rahmen des Pilotprojektes anonym beworben haben, war ja auch dafür. Sie fanden es nicht aufwendiger und waren von den Chancen überzeugt.

derStandard.at: Wie war die Resonanz bei den Personalverantwortlichen? Bedeutet so ein Verfahren nicht mehr Aufwand?

Lüders: Es gibt mehrere Möglichkeiten. Die eine ist, standardisiert einen Fragebogen zu entwickeln. Das ist am einfachsten. Oder man schwärzt die Daten, die Rückschlüsse zulassen. Das ist mit mehr Aufwand verbunden. Ich würde das keinem Unternehmen empfehlen. Wir plädieren hier klar für ein standardisiertes Verfahren. Ein einfacher Bogen und daneben eine Information darüber, was er wie ausfüllen muss.

derStandard.at: Also kein zusätzlicher Aufwand?

Lüders: Bei dem standardisierten Fragebogen überhaupt nicht. Das haben uns auch die Personalverantwortlichen bestätigt. Darüber hinaus haben uns einige Personaler berichtet, dass bei anonymisierten Bewerbungen die Profile für den Job extrem geschärft wurden, weil der Fokus rein auf der Qualifikation liegt. Da muss man auch sehr scharf und sehr zielgenau ausschreiben. Das optimiert die Prozesse und ist auch für die Bewerber besser.

derStandard.at: Aber sollte nicht zumindest der öffentliche Dienst eine Vorbildfunktion einnehmen und solche Verfahren implementieren?

Lüders: Wir sind froh, dass das Bundesfamilienministerium das mit uns getestet hat und weiter auf anonymisierte Verfahren setzen wird. Das kann auch für andere Verwaltungen Signalwirkung haben, so gesehen sind wir auf einem guten Weg. Ich will hier keinen Zwang ausüben. Man muss Unternehmen mit guten Argumenten überzeugen.

derStandard.at: Rein mit Überzeugungsarbeit wird das mit Sicherheit noch Jahre dauern.

Lüders: Ja, aber jedes Unternehmen hat ja das Ziel, möglichst benachteiligungsfrei auszuschreiben. Dafür gibt es im Übrigen auch Gesetze, die das garantieren.

derStandard.at: Werden kleine Unternehmen Probleme haben?

Lüders: Nein, für die ist es fast einfacher. Die bräuchten nur in ihren Inseraten mitteilen, wo sich der Bewerbungsfragebogen zum Ausfüllen befindet. Zum Beispiel auf der Homepage. Auf der ersten Seite stehen Name und Adresse, das verbleibt im Sekretariat. Nur die zweite Seite bekommen die Personalverantwortlichen zu sehen, hier sind die relevanten Daten und Qualifikationen enthalten. International ist das meistens schon Standard. Nicht nur in den USA oder Kanada, sondern auch in mehreren europäischen Ländern. Wir hinken da etwas hinterher.

derStandard.at: Würden Sie das auch als EU-weites Thema sehen, um auf gesetzlicher Basis noch stärker Diskriminierungen bekämpfen zu können?

Lüders: Das glaube ich nicht. Die EU wird Unternehmen nicht vorschreiben wollen, wie sie rekrutieren müssen. Ich würde solche Zielvorgaben auch nicht für gut halten, Firmen sollen das freiwillig machen. Und der Ball ist im Rollen. (Oliver Mark, derStandard.at, 23.4.2012)