Die 76-jährige Martha Raviv überlebte den Holocaust.

Foto: derStandard.at/Hackl

Die Sirene ertönt. Alle Autos halten an. Die Menschen steigen aus und schweigen. Etwa zwei Minuten lang stehen sie da. Viele senken ihren Blick. Nichts scheint sich zu bewegen. Dann verstummt die Sirene wieder und Tel Aviv bewegt sich weiter. So wie der Rest von Israel. Es war zehn Uhr morgens am israelischen Holocaust-Gedenktag in der letzten Woche. Ein Tag, der für die Holocaust-Überlebende Martha Raviv vor allem an eines erinnern soll: Menschlichkeit.

"An diesem Tag geht es nicht darum, gegen etwas zu kämpfen. Nicht der Kampf gegen Antisemitismus, sondern der für die Menschlichkeit muss im Vordergrund stehen", sagt die heute 76-jährige. Dabei hätte sie Grund genug, den Glauben an die Menschlichkeit für immer aufzugeben. Dennoch war es gerade das Aufflackern der Menschlichkeit inmitten des nationalsozialistischen Grauens, das ihr oft das Weiterleben ermöglicht hat.

Von einem Gefängnis ins nächste

Martha Raviv wurde 1936 in Wien geboren. Ihr Vater wurde bereits 1939 verhaftet und später nach "anthropologischen Untersuchungen" durch Josef Wastl, eines Abteilungsleiters des Naturhistorischen Museums, in die Gaskammern geschickt. Laut einer Todesurkunde aus Buchenwald sei ihr Vater an einem Herzinfarkt gestorben. Doch Martha Raviv besitzt Dokumente die beweisen, dass er nicht an einem Herzinfarkt starb, sondern 1942 in den Gaskammern der "Euthanasie-Anstalt Bernburg" ermordet wurde.

1942 werden erstmals auch Martha Raviv und ihre Mutter verhaftet, jedoch bald wieder freigelassen. Ein Jahr später werden sie im berüchtigten Wiener Gefängnis Elisabethenpromenade abermals interniert. "Damals war Wien schon 'Judenfrei'", sagt sie. "Doch irgendwie haben wir es geschafft, durch einen Schmäh die russische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Und später standen wir unter dem Schutz des schwedischen Konsulats." Im Austausch für Kriegsgefangene seien sie dann als Russen deportiert worden.

Im Zuge ihrer Wanderung des Grauens durch 10 Gefängnisse mit Endstation im Lager Bergen-Belsen bei Hannover sei es oft der außerordentliche Charakter ihrer Mutter gewesen, der für ihr Überleben entscheidend war. "Meine Mutter hatte immer jeden Schlupfwinkel gesucht, um uns zu retten", sagt sie. Einer der Stationen ihrer Gefangenschaft war Prag. Dort sollte sie eine besondere Lektion lernen.

Ein Abendbrot

"Nach unserer Ankunft im Prager Gefängnis mussten wir von 6 Uhr morgens bis spät in die Nacht mit dem Gesicht zur Wand stillstehen", sagt sie. Unter den Gefangenen sei ein Mann gewesen der an einem Bein hinkte. Weil er nicht ruhig und gerade stehen konnte, hat ihn der Aufseher einfach erschossen. "Ich stand weiterhin mit dem Gesicht zur Wand und habe mich nicht gerührt. Ich habe in diesem Moment verstanden: Wer sich rührt, wird erschossen."

Nach einem Schichtwechsel sei dann ein neuer Aufseher gekommen. Erschöpft und hungrig stand Martha Raviv immer noch da. Plötzlich hat sie der Aufseher gefragt, wie lange sie schon so dastehe. Doch verängstigt brachte sie keine Antwort heraus. "Feigling", schrie er sie an. "Du antwortest nicht." Doch ihre Mutter sagte an ihrer Stelle, dass sie bereits seit sechs Uhr morgens am selben Fleck steht.

"Dann hat er mich an seinen Tisch gesetzt und mir sein Abendbrot gegeben", sagt Raviv. Einige Zeit später habe er ihr eine Tüte mit Äpfeln bringen lassen. In ihrer heutigen Erinnerung war die Tüte riesig. Doch lächelnd meint sie, dass diese Tüte womöglich gar nicht so groß, sondern sie selbst bloß so klein gewesen ist.

Ein Appell in Hildesheim

"Ich kann mich noch gut an den Transport nach Hildesheim erinnern. Zu viert waren wir in eine kleine Kabine im Zug gepfercht. Es gab dort einfach keine Luft", sagt sie. "Wir konnten das Fenster nicht öffnen."

Mit ihr in der Kabine waren zwei politische Gefangene aus Jugoslawien. Martha Raviv erinnert sich, dass die beiden Schuhe mit eingearbeiteten Nägeln getragen hatten. Das war ihr Glück. "Sie haben das Fenster mit den Nägeln zerschmettert. So konnten wir wieder ordentlich atmen." Das sei eines von vielen Beispielen dafür, dass im Nationalsozialismus oft Kleinigkeiten über Leben und Tod entscheiden konnten, sagt sie.

In Hildesheim angekommen musste sich Martha Raviv mit ihrer Mutter und den anderen Gefangenen in einer Reihe aufstellen. Ein SS-Kommandant habe die Neuankömmlinge begutachtet, als plötzlich ihre Mutter einen Appell wagte. "Erlauben sie mir bitte, ich möchte einen Sessel", habe ihre Mutter gesagt. "Der Sessel ist für Sie?", meinte der Kommandant. "Nein", erwiderte die Mutter. "Diese Frau neben mir kann kaum mehr atmen und stehen. Er ist für sie", erinnert sich Raviv. "Sich so etwas zu wagen, in dieser Zeit, dass war fast unmöglich."

Sonntagmorgen habe der Kommandant dann ihre Mutter zu sich gerufen. Doch er habe bloß gefragt, wo ihr Gepäck sei. Dann habe er die Koffer mit Nahrungsmitteln und Medikamenten gefüllt. "Er hat meiner Mutter gesagt, dass sie durchhalten soll, dass der Krieg in Russland verloren sei, und alles bald ein Ende haben wird."

Antisemitismus in Österreich

Wenn Martha Raviv sagt, dass der Kampf für Menschlichkeit wichtiger ist als der gegen Antisemitismus, will sie damit nicht sagen, dass dieser unwichtig sei. Im Zuge des Projekts "Die Letzten Zeugen" wurde Martha Raviv 2008 als Vortragende in eine katholische Schule in Bregenz eingeladen.

"Die Umgebung dort ist so antisemitisch", meint sie, und erzählt von ihrem Besuch. "Vom Flughafen hat mich eine kanadische Mutter abgeholt, so unwichtig war ihnen das. Doch nach meinem Vortrag hat mich dann eine Vorarlberger Lehrerin wieder zurückgefahren. Sie meinte plötzlich: 'Wenn meine Mutter wüsste, dass ich eine Jüdin im Auto chauffiere. Aber mein Bruder ist Historiker, der würde das bestimmt verstehen.'"

Auch habe ihr ein Masseur aus Südtirol einmal ausschweifend über die Juden vorgetragen. "Das sie Hörner haben, und so", sagt sie. "Als ich ihm erzählt habe, dass ich Jüdin bin, war er schockiert."

Es seien die kleinen Dörfer und Orte in der ländlichen Provinz, die Martha Raviv Sorgen bereiten. Ob dabei auch die Kirche eine Rolle spiele, wisse sie nicht. "Man müsste jedoch mehr über den Holocaust und das jüdische Leben unterrichten. Wenn es schon nur mehr so wenige Holocaust-Überlebende gibt, die noch fit sind und deutsch sprechen, dann muss man die auch in die Schulen bringen."

Ihr heutiger Bezug zu Österreich sei nicht einfach. Auch weil sie als Anwältin gemeinsam mit anderen Überlebenden erster und zweiter Generation weiterhin ein Wiederaufrollen der Kompensationszahlungen an jüdische NS-Opfer durch Österreich fordert (derStandard.at berichtete).

"Angst vor dem Iran"

Die Art und Weise, wie der Holocaust heute von Seiten der Politik benutzt wird, findet Martha Raviv nicht immer gut. Doch was den Iran betrifft, stimmt sie dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu zu. "Ich fühle mich durch den Iran richtig bedroht. (Der iranische Präsident) Ahmadinedschad sagt offen, dass er Israel und das Judentum vernichten will. Er ist für mich schon so etwas wie Hitler", sagt sie.

Auch für den Nationalsozialismus habe sich die Welt lange nicht interessiert. Auch Auschwitz sei lange nicht bombardiert worden. "Trotzdem wusste man es. Ich habe Angst vor dem Iran. Nicht so sehr für mich, aber für meine Enkelkinder." (Andreas Hackl, derStandard.at, 22.04.2012)