Junge Kambodschanerinnen besichtigen das ehemalige Folterlager S-21, das heute Gedenkstätte ist.

Foto: Poool

Wien - Am Familienesstisch werden zentrale Fragen verhandelt: Wie kann sich ein Einzelner der Logik und den Befehlsketten eines totalitären Regimes entziehen? Oder umgekehrt - wie weit wird unter einem solchen Regime die Verantwortlichkeit eines Individuums für seine Taten aufgehoben? Und wie würde man selbst sich in einer Situation verhalten, in der beispielsweise das eigene Leben nur um den Preis eines anderen zu retten wäre?

Um den Tisch in einer Pariser Wohnung sitzen ein Vater und seine erwachsenen Töchter. Die Familie ist einst der Schreckensherrschaft Pol Pots entkommen - der Vater war Soldat in der besiegten Armee von Lon Nol - und lebt seitdem in Frankreich. Die jüngeren Töchter wurden hier geboren. Das Gespräch findet vor dem Hintergrund des Rote-Khmer-Tribunals statt, das 2009 den Prozess gegen Kaing Guek Eav alias Duch, Leiter des Foltergefängnisses S-21, eröffnet. Von Kambodschanern im Land und im Exil via Fernsehen verfolgt, fungieren diese Übertragungen nicht zuletzt als Impuls für die Auseinandersetzung mit der (eigenen) Vergangenheit.

An diesem Punkt setzt Susanne Brandstätters jüngster Dokumentarfilm The Future's Past - Creating Cambodia an. Er begleitet zwei Studentinnen und einen jungen Mönch, Vertreter einer nachgeborenen Generation, und nimmt deren Begegnungen mit und Befragungen von Eltern, Verwandten, Nachbarn auf, welche die Herrschaft der Khmer Rouge überlebt haben: Zwischen 1975 und 1979 fielen dieser fast zwei Millionen Menschen zum Opfer.

Die Aufnahmen für The Future's Past entstanden über einen Zeitraum von zwei Jahren in Frankreich und Kambodscha. Die Filmemacherin, die in ihrem vorigen Kinofilm Rule of Law (2006) die komplizierte Arbeit einer UN-Richterin im Kosovo dokumentierte, tritt selbst nicht in Erscheinung. Es gibt keinen Kommentar, dröhnende Sound-Fragmente aus dem Off hie und da haben jedoch den Charakter nonverbaler bedeutungsvoller Unterstreichungen. Was die Wirkung des Gezeigten eher stört als unterstützt.

Eine frühe Einstellung im Film kann man aber auch als Statement lesen: Man blickt auf ein paar Menschen, die auf einer Veranda traditionell auf dem Boden sitzen, und die Kamera ist mit ihnen auf Augenhöhe, gegenwärtig, unaufdringlich (Kameramann Joerg Burger erhielt bei der Diagonale den Preis für die beste Dokumentarfilm-Bildgestaltung).

Aus konkreten Schilderungen unterschiedlicher Zeitzeuginnen und -zeugen entsteht das Bild eines alles und alle durchdringenden Macht- und Kontrollapparats mit geringem Handlungsspielraum. In den Erzählungen offenbaren sich Opfer und Täter - und Positionen, in denen ein klares Gegensatz verschwimmt.

Der Dialog ist mal vorsichtig tastend, dann wieder recht direkt, manchmal unergiebig, aber im Schweigen oder Lächeln beredt. Vergangenheitsbewältigung als Work in progress. Herr Phay etwa lacht, als seine Töchter ihre Visionen von zivilem Ungehorsam, Flucht oder Suizid äußern. Aber auch seine schlimmen Erfahrungen überdauert die Hoffnung, dass man im Ernstfall doch nicht gehorchen würde. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 21./22.4.2012)