Trinkerin vielleicht, oder innere Emigrantin? Else Buschheuer ist vieles und fragt sich, wie sie geworden wäre, wenn sie immerzu lückenlos pumperlgsund gewesen wäre und die Mauer nicht gefallen wäre.

Foto: Buschheuer

Ich frage mich, wie der Mensch wird, was er ist. Warum kleide ich mich so oder so, habe diese oder jene Ansichten, tue dies, tue das, mag das eine, aber das andere nicht? Wo kommt das her? Wer hat den Grundstein gelegt? War das von Anfang an in mir? Erst bin ich auf die Welt gekommen, das ist unstrittig. Mit einem Kaiserschnitt wurde der Leib meiner Mutter geöffnet, und man hob mich heraus. Ich lebte, atmete, schrie - aber war ich ich? Und wenn nicht, wer war ich dann? So ein Mensch bringt nicht viel mit in diese Welt außer Organen und Gliedmaßen. Er kann noch nicht laufen, er kann noch nicht sprechen. Sein Schädel ist oben offen, ganz weich, direkt unter der Haut pulsiert das frisch geschlüpfte Gehirn.

Und jetzt kommt die Gesellschaft, steckt einen Trichter in die Fontanelle und beginnt, das leere Gefäß zu füllen. Der Mensch wird also angefüllt mit Richtigs und Falschs, mit Guts und Böses - was richtig und falsch ist, was gut und böse ist, das entscheidet die Gesellschaft. Woher aber wissen Eltern, wie man ein Kind erzieht? Sind das Erfahrungswerte, haben sie Bücher gelesen, haben sie eigentlich keine Ahnung? Sie sind selbst einmal Säuglinge gewesen, sie sind selbst einmal gefüllt worden mit Richtigs und Falschs, Guts und Böses. Und je nachdem, wie gut ihnen das bekommen ist, werden sie mit ihrem Kind dasselbe tun - oder das Gegenteil. So geht das.

Ich war ein freundliches Kleinkind, verschmitzt und wach, mit Pausbäckchen und Löckchen. Ich hieß Sabine. Ich lebte in einem Land, das von einer Mauer umgeben war, weil draußen der böse Kapitalismus lauerte. Der erste Krakel, den ich im Kindergarten malte, hieß "Ich winke Erich Honecker". Ich hatte eine Brieffreundin in der Sowjetunion, unserem starken Bruderland, unserem Befreier vom Hitlerfaschismus, der Heimat von Wladimir Iljitsch Lenin und der Ruhmreichen Roten Sowjetarmee. Ich war ein Einzelkind mit stark ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn. Ich liebte es, Schwächere zu schützen und Größere anzugreifen. Deswegen zeigt mich das Passbild aus der ersten Klasse mit schief geknöpftem Pulli und dicker Lippe.

Als ich elf war, bekam ich eine Brille, und meine Haare wurden brav zu Zöpfen gescheitelt. Ich hatte keine wesentlichen Gedanken, alte Tagebücher erzählen lediglich davon, wer meiner Meinung nach der niedlichste Junge in der Klasse sei. Ich lebte mit meinen Eltern im Plattenbau, war Pionier, ich kam in die FDJ (Freie Deutsche Jugend), und ich sang im Rundfunkkinderchor Leipzig Lieder wie Wie die Komsomolzen hau'n wir auf den Bolzen. Es war ziemlich sicher, wo die Reise hinging. Abitur. Studium. Berufstätigkeit, zwei Kinder, ein Mann, ein Leben als "gelernter DDR-Bürger".

Ich war neugierig

Als ich auf die EOS (Erweiterte Oberschule = Gymnasium) kam, setzte ich die Brille ab und beschloss, ein hübsches Mädchen zu werden. Aber wie ging das? Ich hatte keine Kriterien dafür, meine Kleidung, mein Geschmack waren typisch DDR. Auf der neuen Schule traf ich erstmals Menschen, die mein schlichtes sozialistisches Weltbild infrage stellten, meinen Horizont öffneten, meinen Geschmack umprägten. Ich war neugierig, formbar, auf fast gierige Weise offen für Neues. Ich hörte Dinge, die bisher vor mir verborgen worden waren. In meiner schönen sozialistischen Heimat gab es Berufsverbot, Republikflucht, Gefängnisstrafen, Ausreiseanträge. Es gab Kirchen und Konfirmationen und das gutbürgerliche Leipzig, das mit dem Sozialismus nicht viel am Hut hatte.

Was war denn nun richtig, was falsch? War alles falsch, was man mich als richtig gelehrt hatte, und vice versa? Ich war 14, fast 15, als ich anfing zu denken. Es war schwer, das in sich geschlossene ideologische System zu durchbrechen, das man mir eingetrichtert hatte. Meine Eltern sagten später: "Ab da warst du nicht mehr unsere Sabine." Das mag so stimmen. Auf den Passbildern meines Lebens kann man gut sehen, aber wann " unsere Sabine" ihre Reise in ein unbekanntes Land antrat, wann sie vom vorgegebenen Lebensweg abwich, nicht.

Ich war geistig stimuliert, sexuell komplett unerweckt, als Else Lasker-Schüler in mein Leben trat. Noch hieß ich Sabine Knoll, aber passte der Name zu mir, füllte ich ihn aus, beschrieb er mich ausreichend? Mit zwanzig Jahren wurde mein Vorname im Standesamt Pankow offiziell geändert. Ich hieß nun Else, die Sabine war ausgelöscht. Ich passte mein Äußeres der Else an. Mein Inneres zog nach. Ich frage mich, wie alles gekommen wäre, wenn ich Sabine geblieben wäre? Gewiss hätte ich ein anderes, ein banaleres Leben geführt.

Wie wird der Mensch, was er ist, und was trifft wie lange auf ihn zu? Wenn ich meine Bücher in Talkshows vorstelle, wird meist ein Beitrag über mich gemacht, der mich vorstellen soll. Dieser Beitrag enthält Bilder aus zwanzig Jahren, durch die der Eindruck entsteht, mein Leben sei ein einziges Frisurenexperiment gewesen. Es werden immer dieselben Stichworte genannt: ließ ihren Vornamen ändern, war mal Wetterfee, vier Romane, vier Jahre New York, drei Ehen. Aber von wem ist da die Rede? Bin das ich? Bin diese Zusammenfassung von temporären Zuständen und Umständen, von Zwischenstufen und experimentellen Stadien ich?

In Ingeborg Bachmanns Erzählung Das dreißigste Jahr wird beschrieben, wie eine Frau in ihren Heimatort zurückkommt und alle denken, sie wüssten, wer sie ist. Dabei ist sie längst nicht mehr die, die sie war, als sie wegging. Aber das kann sie den Zurückgebliebenen nicht begreiflich machen. Die erinnern sich noch gut daran, was sie damals glaubte, sagte, machte. Sie können sie nicht sehen, wie sie jetzt ist, weil ihr Blick nicht frei ist, sondern verstellt von nicht mehr zu ändernden Meinungen.

Ich habe überlebt

Als ich 17 war, wurde ich sehr krank. Einige Monate lang stand mein Leben auf Messers Schneide. Ich habe überlebt, aber der vorweggenommene Tod hat mich verändert. Ich wurde draufgängerischer, wilder, kompromissloser. Die Endlichkeitserfahrung hat mich mutig gemacht. Lebe ich das Leben, das ich leben will?, habe ich mich seitdem wieder und wieder gefragt, habe immer wieder korrigiert, neu angefangen, mich auf meine Träume konzentriert, Therapien gemacht, an mir gearbeitet. Ich frage mich, wie ich geworden wäre, wenn ich immerzu lückenlos pumperlgsund gewesen wäre. Anders. Auf jeden Fall anders.

Als ich 24 war, fiel die Mauer, und ich konnte eine Karriere beginnen, die andernfalls vollkommen undenkbar gewesen wäre. Zu DDR-Zeiten war ich nicht mal in der Nähe von Journalisten. Ich kannte auch keinen, der einen kannte, der einen kannte. In meinem Abiturzeugnis hatte gestanden: " Sie ringt um eine marxistische Weltanschauung."

Ich frage mich, wo ich heute wäre, wenn die Mauer nicht gefallen wäre. In der DDR wäre ich nichts geworden, Trinkerin vielleicht, Leichenwäscherin mit Ausreiseantrag, innere Emigrantin. Vielleicht wäre ich in die Irrenanstalt gekommen, hätte mich umgebracht, wäre auf der Republikflucht erschossen worden. Vielleicht hätte ich einen Apparatschik geheiratet und seinen marxistischen Glauben angenommen. Wobei Letzteres relativ unwahrscheinlich ist.

Ich färbte mir die Haare knallrot, schrieb Bewerbungen wie besemmelt und erzwang mit meiner großen Klappe den Quereinstieg in den Journalismus. Avanti Dilettanti, was kostet die Welt. Ich war fleißig, störrisch und hungrig nach Freiheit. Mit 35 erlebte ich die Jahrtausendwende. Mein erster Roman war erschienen, meine Tochter war schon ein Teenager, die Welt stand mir offen. Wer war ich damals? Wer bin ich heute? Wer werde ich in zehn Jahren sein? Werde ich noch sein? Werde ich noch mutig und neugierig sein oder satt und träge? Werde ich Ideale haben, einen Partner, eine neue Frisur?

Jean-Paul Sartre sagt: "Dein Leben hängt davon ab, was du aus dem machst, was mit dir gemacht worden ist." Es hört nie auf, etwas aus dem zu machen, was mit uns gemacht worden ist. Es ist ein permanenter Prozess, ein lebenslanges Werden. Alle Binsen, alle Sprichwörter, die das beschreiben, stimmen, so banal sie klingen. Sind sie erst mit Lebensklugheit gefüllt, sind sie tiefe, reinste Wahrheit: Der Weg ist das Ziel. Es ist nie zu spät. Leben ist lernen.

Ich frage mich, wie viel Zeit mir noch bleibt. Sind es Monate, Jahre, Jahrzehnte? Wann ist meine Ichwerdung, mein Coming out als ich, abgeschlossen? Wenn mir jemals in dieser Sekunde ein Kuvert über den Tisch schöbe, in dem mein Todestag steht, ich würde es öffnen. (Else Buschheuer, Album, DER STANDARD, 21./22.4.2012)