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Arbeiter des Stahlkonzerns Arcelor Mittal protestieren vor dem Eiffelturm in Paris für die Rettung ihrer Arbeitsplätze. Sie sind gefährdet, so wie jene von Prevent Glass und anderen Betrieben.

Foto: AP/Mori

Die Präsidentschaftskandidaten Nicolas Sarkozy und François Hollande versprechen Abhilfe.

 

Vor dem Eingangsportal: ein Sarg. "Tote Fabrik", ist auf einem großen Karton zu lesen. Das Unternehmen Prevent Glass produzierte hier in Bagneaux-sur-Loing, 90 Kilometer südlich von Paris Autoverglasungen, vor allem für Volkswagen. Doch die Deutschen wollen jetzt anderswo billiger produzieren. Am 23. April befasst sich ein Gericht mit der zahlungsunfähigen Firma.

Auf der Fahrt durch das Loing-Tal kommt man an leeren Werkstätten mit eingeschlagenen Fensterscheiben vorbei, an geschlossenen Bäckereien, heruntergelassenen Rollläden. Bloß ein Bistro ist offen. "Prevent Glass? Da arbeite ich", meint ein breitschultriger Mann mit Lederjacke und korrigiert sich gleich: "Arbeitete ich." Man warte auf das Urteil, hoffe, auf einen Investor in letzter Minute. "Ich habe gehört, ein Chinese wolle die Fabrik übernehmen. Aber machen wir uns nichts vor: Wir sind geliefert."

In einem heruntergekommenen Arbeiterwohnhäuschen entlang der Hauptstraße, wo der Betriebsrat seine Büros hat, erzählt der Personaldelegierte Eric Boucheron vom Niedergang von Prevent Glass. Seinerzeit produzierten mehr als tausend Mitarbeiter Röhren für Fernsehgeräte. Als dann die Flachbildschirme aufkamen, begannen die Besitzerwechsel, neue Produktionsversuche - und die Stellenstreichungen, zuerst auf 700 Jobs, dann auf 300. "Jetzt sind wir nur noch 219", sagt Boucheron. "Alle Angestellten stammen aus dem Ort. Nur die Eigner wechselten ständig: Amerikaner, Bosnier, Türken."

Hauptkunde Volkswagen kaufte zuletzt 90 Prozent der Produktion, vor allem Heckscheiben für den VW Golf. "Als wir dann völlig von den Deutschen abhängig waren, begannen sie uns gegen eine Konkurrenzfirma auszuspielen", erzählt der Gewerkschafter. Bei VW war vorerst keine Stellungnahme zu dem Fall zu erhalten.

"Es lebe die Globalisierung", kommentiert das Boucherons Kum pel Philippe Amiot sarkastisch. VW habe vorgeschlagen, den gesamten Scheibenbestand der Belegschaft zu überlassen - für 1,3 Millionen Euro, als Gegenwert für die Entlassungsabfindungen. "So etwas ginge nicht einmal in Südamerika durch", kommentiert Amiot, der zu jener Spezies Mensch gehört, die kein Handy hat: "So etwas braucht man hier nicht."

Auch die Präsidentschaftskandidaten rufen hier nie an. Sie ziehen spektakulärere Schauplätze wie etwa die Hochöfen Lothringens vor, die ebenfalls von Schließungen betroffen sind. Dort stellen wütende Arbeiter nicht nur symbolische Särge vor die Fabriks tore, sondern marschieren nach Paris und liefern sich vor dem Hauptquartier des Wahlkampfteams von Nicolas Sarkozy Straßenschlachten mit der Polizei.

Im Loing-Tal wird hingegen still gestorben. In nur wenigen Jahren sind in der Umgebung hunderte Arbeitsplätze verschwunden. Seit dem Jahr 2000 hat Frankreich offiziell 763.000 Industriejobs ver loren. "Mit den damit zusammenhängenden Firmenpleiten im Dienstleistungsbereich macht das mehr als eine Million Jobs aus", rechnet Amiot vor.

Die Arbeitslosigkeit liegt in Frankreich erstmals in diesem Jahrhundert wieder über zehn Prozent; der Produktionsstandort Frankreich scheint nicht mehr konkurrenzfähig. Im Jahr 2000 hatten die Lohn- und Sozialkosten noch acht Prozent unter dem deutschen Schnitt gelegen; heute liegen sie zehn Prozent darüber.

Krise für "made in France"

Der Pariser Ökonom Patrick Artus macht in seinem Buch La France sans ses usines (Frankreich ohne seine Fabriken) die nationale Industriepolitik dafür verantwortlich: Sie verhätschle einige Spitzenprodukte wie den TGV, Airbus oder die neue AKW-Ge neration, vernachlässige aber die breite Basis der Klein- und Mittelunternehmen (KMUs). Auch deshalb verkaufe sich das Label "made in France" weltweit immer schlechter: 2011 setzte es ein rekordhohes Handelsdefizit von 75 Milliarden Euro ab. Zehn Jahre zuvor hatte Frankreich noch einen Exportüberschuss erzielt.

Im laufenden Präsidentschaftswahlkampf appellieren viele Kandidaten wie der Zentrumspolitiker François Bayrou an die Mitbürger, "französisch" zu konsumieren. Und der Linke Jean-Luc Mélenchon will an den europäischen Grenzen gar Zollbarrieren errichten. Die beiden Spitzenkandidaten Nicolas Sarkozy und François Hollande wollen den KMUs unter die Arme greifen. Der konservative Präsident will die Lohnkosten senken, das heißt subventionieren - während sein sozialistischer Herausforderer für eine eigene staatliche Investitionsbank für KMUs eintritt.

Viel Handlungsspielraum haben sie aber nicht: Die Staatskasse ist leer. Das erfahren nun auch die 219 Arbeiter von Prevent Glass: Ihnen hat kein Präsidentschaftskandidat Unterstützung zugesagt. Auch die ominösen chinesischen Investoren hätten das Handtuch geworfen, sagt Gewerkschafter Boucheron. Er will dem Gericht Ende April noch vorschlagen, mit öffentlichen Hilfsgeldern auf Glastechnologie für Sonnenkollektoren umzusatteln - ein letzter Strohhalm. Eher dürfte das Lokalgericht aber die Betriebsauflösung verfügen. Damit hat es ja auch mehr Erfahrung. (Stefan Brändle aus Bagneaux-sur-Loing /DER STANDARD, 17.4.2012)