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Immer mehr Menschen verzweifel an ihrer prekären finanziellen Lage und sehen keinen Ausweg mehr.

Foto: Reuters/John Kolesidis

Mehr als 400 Menschen kamen zur Beerdigung. Kaum einer von ihnen kannte den Toten. Was die Trauergemeinde antrieb, war Wut. Wut auf das politische System Griechenlands. Wenige Tage zuvor hatte sich Dimitris Christoulas mitten in Athen, auf dem Syntagma-Platz vor dem Parlament eine Pistole an den Kopf und sich selbst gerichtet. Bevor er abdrückte, hatte er noch gerufen: "Ich habe Schulden, ich halte das nicht mehr aus." Der 77-Jährige war kein armer Mann. Bis in die 1990er Jahre besaß er eine Apotheke, die Wirtschaftskrise setzte ihm weit weniger zu als vielen seiner Landsbürger. Was ihn trieb, war die Wut gegen das korrupte System im Staat. In seinem Mantel fand man einen Stück gefaltenes Papier, seine letzte Botschaft - der Abschiedsbrief: "Mein Überleben, das durch eine würdevolle Rente gesichert sein sollte, ist bedroht. Ich finde keine andere Lösung als die eines würdevollen Endes, bevor ich anfange, im Müll zu suchen, um mich zu ernähren."

Depressionen, Drogen, Diebstähle

Die tiefe Wirtschaftskrise im hoch verschuldeten Griechenland geht mit Massenarbeitslosigkeit und einbrechenden Gehältern und Pensionen einher. Depressionen und Selbstmorde nehmen alarmierend zu. Laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters soll die Zahl der wirtschaftlich bedingten Selbsttötungen im Jahr 2010 um 25 Prozent, in den vergangenen beiden Jahren sogar um 40 Prozent gestiegen sein. Nach einem Bericht der Zeitung Ta Nea sind 2011 offiziell 450 Fälle gezählt worden. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher liegen.

Darüber hinaus birgt die Finanzkrise auch ein nicht unwesentliches Gesundheitsrisiko. Aufgrund ihrer prekären Finanzlage verlieren viele Menschen mit geringerem Budget den Zugang zum Gesundheitswesen. Die britische Fachzeitschrift "The Lancet" online veröffentlichte Mitte vergangenen Jahres eine Untersuchung mit dem Untertitel "Vorzeichen einer griechischen Tragödie" und zeigt darin einen besonders makabren Teufelskreis auf: Durch die Krise nimmt der Heroinkonsum und der Anstieg an Neuinfektionen mit dem HI-Virus rapide zu. Die Studie prognostiziert einen Anstieg um 52 Prozent für dieses Jahr. Zwei Hauptgründe zeichnen dafür verantwortlich: Zum einen finden die Drogenabhängigen keine Gelegenheitsjobs mehr und prostituieren sich, um an das Geld für den Stoff zu kommen. Zum anderen haben viele Streetworker ihre Arbeit verloren. Die Forscher in Cambridge kamen zudem zu dem Ergebnis, dass sich die Zahl der Gewalttaten und Diebstähle in Griechenland seit Beginn der Krise innerhalb von zwei Jahren nahezu verdoppelt hat.

Dramatisches Bild in Italien

Ein ähnliches Bild zeigt sich in Italien. Die Zahl der wirtschaftlich motivierten Selbsttötungen ist zwischen 2005 und 2010 um 52 Prozent gestiegen. Der Steuerzahlerbund Federcontribuenti beantragte mittlerweile bei der Staatsanwaltschaft in Rom, mindestens 18 Fälle von Selbsttötung seit Jahresanfang zu untersuchen. Stärkster Vorwurf: Die Technokratenregierung unter Mario Monti habe in den vergangenen Monaten nur neue Steuern und sonst nichts eingeführt. Die Steuerbehörden würden dabei nicht zwischen Steuerhinterziehern und jenen unterscheiden, die aus wirtschaftlichen Gründen in Zahlungsrückstand gerieten.

Wie in Griechenland wählen viele Italiener den öffentlichkeitswirksamen Freitod. Ein behinderter versuchte sich bei einem Besuch von Ministerpräsident Monti selbst zu verbrennen. Er hatte zuvor vergeblich um die Rückerstattung von Geldern für medizinische Behandlungen von den lokalen Gesundheitsbehörden gekämpft. In Bologna hatte sich ein 58-jähriger italienischer Bauarbeiter in seinem Auto angezündet, nachdem er mehrere Abschiedsbriefe hinterlassen hatte. Er stand wegen mutmaßlicher Steuerhinterziehung in Höhe von 104.000 Euro vor Gericht. Ein anderer Bauarbeiter zündete sich in Verona auf offener Straße an. Beide Männer überlebten trotz der schweren Verletzungen knapp. Eine 78-jährige Pensionistin sprang vom Balkon ihrer Wohnung. Die Sizilianerin hatte zuvor erfahren hatte, dass ihre Pension um 200 Euro gekürzt worden war.

Der Vorsitzende des griechischen Federcontribuenti, Carmelo Finocchiaro, spricht bereits von einem "sozialen Massaker", für das der Staat verantwortlich ist. Die Zahlen dürften ihm Recht geben: Die Einkommen der Griechen sind in den vergangenen drei Jahren um etwa ein Fünftel zurückgegangen, zugleich stieg die Arbeitslosigkeit auf den Rekordwert von 21 Prozent, bei den Jungen ist sogar jeder zweite ohne Job. Zehntausende Pensionisten müssen mit etwa 500 Euro auskommen. (APA/red, derStandard.at, 16.4.2012)