Schreibt hinreißend unverschämt über die Unmöglichkeit, Romane zu schreiben: Javier Marías.

Foto: Andrea Comas

Still ist es in den vergangenen Jahren um Javier Marías geworden, zu still. Fast verhalten war in jüngerer Zeit die Resonanz auf den Autor aus Madrid, der 1996 hymnisch gefeiert worden war für seinen sich auch exorbitant gut verkaufenden Roman Mein Herz so weiß. War es damals ein mysteriöser Suizid, der im Zentrum der in Romanform überführten Meditation über Gefühle, Gedanken, Geschichten und das Schweigen im Erzählen stand, so erschüttert Marías in seinem jüngsten, von Susanne Lange gut übersetzten Roman ein Mord.

Ihre Tage beginnt die Verlagslektorin, aus deren Sicht der Roman erzählt wird, mit einem Frühstück in einem Madrider Café. So wie sie gehört zu den Stammgästen ein Ehepaar, das ungewöhnlich liebevoll miteinander umgeht. Der elegant gekleidete, gutaussehende, offensichtlich vermögende Mann um die 50 und die einige Jahre jüngere Frau haben zwei kleine Kinder, scheinen auch in der Nachbarschaft des Kaffeehauses zu wohnen, gönnen sich jedoch den kleinen Luxus, den Tag nochmals zu zweit zu beginnen. Der Anblick dieses perfekten Paares versorgt María mit einem Grundgerüst an Glück, das möglich, an Leben, das erfüllt, an Gefühl, das erreichbar ist. Eines Tages erscheint der Mann nicht mehr, ebenso wenig die Frau. Erst nach mehreren Geschäftsreisen erfährt María, dass der Mann, ein erfolgreicher Unternehmer namens Miguel Deverne, von einem geistig verwirrten Obdachlosen, der sich ein Taschengeld als Parkplatzanweiser verdiente, tödlich niedergestochen wurde.

Zufällig lernt sie Luisa, die Witwe, kennen, die sie wiederum ihrerseits als Kaffeehausstammgast erkennt, leiht ihr ein Ohr, fängt mit Miguels bestem Freund Javier Díaz-Varela ein Verhältnis an. Und hört zufällig ein Gespräch Javiers mit seinem Bekannten Ruibérriz de Torres mit, in dem es um den Mord an Miguel geht. Sie kombiniert aus den Konversationspartien, die sie aufschnappt, ein Komplott, ist doch für sie unübersehbar, dass Javier Luisa liebt. Beseitigte er den Rivalen, um das Herz der Witwe zu gewinnen? Dass diese Interpretation wiederum gewendet wird, ins Gegenteil - es handelte sich laut Javier um aktive Sterbehilfe des angeblich todkranken Miguel -, und dann die Möbiusschleife der Deutungen noch eine weitere Wendung nimmt, ist bei dem in seiner Gedankendramaturgie raffiniert vorgehenden Marías zu erwarten. Auch dass dieser Roman eine Echokammer der Lektüren ist.

Schließlich ist der Madrilene, der im vergangenen Sommer den Österreichischen Staatspreis für Literatur erhielt, lange auch ein fleißiger Übersetzer englischer und amerikanischer Literatur gewesen, darunter Shakespeare, Laurence Sterne und Updike, Seamus Heaney, Kipling und Thomas Hardy. Echos dieser Autoren brechen sich in allen seinen Büchern, hier nun sind es Balzac und Dumas. Und er ist auch bekannt für seine Prosakatarakte: weit ausgreifende Sätze, in denen Nebensatz nach Nebensatz aufbraust. In denen Gedanken abgelöst werden von Deutungen, Deutungen von Sichtweisen, Sichtweisen von Mutmaßungen, sodass letztlich alles schwankend und unsicher wird.

Das Hypothetische - kaum etwas anderes denn angstgeschwärzte Emotion - hat in seinen Romanen schon immer eine große Rolle gespielt, etwa in Schwarzer Rücken der Zeit (2000); ebenso das Monologisieren, in extenso, weil überlang, demonstriert er in seiner in arkanen Obskurantismus abdriftenden 1400 Seiten langen Trilogie Dein Gesicht morgen, zwischen 2004 und 2010 auf Deutsch erschienen. Ebenso das Spiel, das auch ein Spiel mit sich selbst ist. Denn gab es nicht in Mein Herz so weiß Charaktere, von denen einer Luisa hieß, ein zweiter Juan und ein anderer Ruibérriz de Torres?

So wenig Handlung bei so vielen Gedanken über das Leben und die Toten, das Gewicht der Erinnerung, das Diffundieren der Liebe, über das Erodieren der Liebe, den Schein des Glücks und die Fragilität des Kosmos, kann das gutgehen?

Als Makel angekreidet wurde ihm dies bereits bei seiner ausgreifenden Trilogie, für ihn ungute Vergleiche mit den Gesellschaftsromanen Henry James' und Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit zog man. Marías Prosa sei so komplex und verschachtelt, gelegentlich auch umständlich, schließlich sei genau so das moderne Leben, und Gefühle würden nicht selten stupend verwirrend jede Komplexitätsgrenze durchbrechen. Aber ist es nicht doch Manier?

Am Ende weiß man nicht so recht, was mehr frappiert: ein höchst artistisch austariertes, geradezu funkelndes Romankunstwerk in Händen zu halten, dessen intellektueller Radius außergewöhnlich ist - oder aus einem Roman, in dem man so tief in die Psychen und Psychosen des Einzelnen hinabgestürzt wird und der in seiner Sprachhermetik merkwürdig abweisend ist, rein gar nichts für das eigene Leben ableiten zu können? Letzteres würde den Romancier Javier Marías, der hinreißend unverschämt über die Unmöglichkeit geschrieben hat, Romane zu schreiben, und auch in Die sterblich Verliebten der Literaturszene viele satirische Lichter aufsetzt, wohl mehr als alles andere erfreuen.   (Alexander Kluy , Album, DER STANDARD, 14./15.4.2012)