Sibylle Berg appelliert an Journalisten: "Nehmt euch die Zeit oder lasst es."

Foto: Katja Hoffmann

"Ich bin Internet-abhängig", sagt Sibylle Berg. Einen Tag lang hält es die deutsche Schriftstellerin ohne Computer und iPhone aus. Dann geht ihr etwas ab: "Es ist zum Arbeiten blöd, wenn man kein Internet hat. Ich denke mir immer: Wie hat man das früher gemacht?" 

Berg war am Donnerstagabend zu Gast in Wien, um über das Subjektive im Journalismus zu sprechen. Ihre These: Der Journalismus ist eine Lüge. Die Welt lasse sich nur subjektiv beschreiben, eine Reportage könne nicht objektiv sein. Warum sie von Journalisten, die "irgendwelche Vorurteilsscheiße" schreiben, regelmäßig enttäuscht wird, wie ihr Twitter hilft, nicht zu verblöden, und warum die "Bild"-Zeitung ein Drecksmedium ist, sagt sie im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Sie haben dem Publikum heute Abend das Magazin "Reportagen" schmackhaft gemacht. Wie weit ist es gekommen, dass Sie betonen müssen, wie toll das Lesen ist?

Berg: Ich habe Sorge um dieses arme kleine Heft, es ist so aus der Zeit. Ich find es schön, es fasst sich gut an. Es braucht Zeit, es zu lesen. Alle, die dafür schreiben, sind losgefahren und haben sich angestrengt. Ich weiß nicht, ob sich die Menschen auch so viel Zeit nehmen, das zu lesen. Wir haben immer weniger Zeit, müssen immer mehr arbeiten, immer schneller sein, damit wir überleben. Wo hast du denn da noch Zeit, das alles zu lesen?

derStandard.at: Die Menschen haben ja früher auch arbeiten müssen.

Berg: Weniger.

derStandard.at: Der Druck ist heute höher?

Berg: Es ist heute eigentlich fast unmöglich, wenn du nicht in die Ukraine ziehen willst, mit wenig Geld auszukommen. Ich habe die Gnade der frühen Geburt und musste einfach sehr lange nichts machen, nichts arbeiten. Es ging gut, dass ich mich mit Jobs durchgewurschtelt habe, um dann schreiben zu können. Das geht heute nicht mehr. Jedenfalls da, wo wir wohnen, geht es nicht mehr. Du kannst dann deine Miete nicht zahlen. Du kannst nichts ausprobieren. Du musst arbeiten. Es gibt einfach zu viele Menschen. Man merkt, wie die Überbevölkerung bei uns angekommen ist. Es gibt in jedem Gebiet eine Riesenkonkurrenz und du musst knallhart bleiben.

derStandard.at: Sie persönlich verspüren auch einen größeren ökonomischen Druck als früher?

Berg: Nicht wirklich. Aber ich merke, die absurde Hoffnung, dass ich, wenn ich älter werde, mehr Zeit habe, mehr Zeit zum Nachdenken, mehr Zeit, um Stoff zu entwickeln, erfüllt sich nicht. Das Gegenteil passiert. Ich muss eigentlich immer schneller produzieren. Ich habe noch Glück, weil ich produzieren kann. Ich habe Theater, die mein Zeug spielen. Ich habe einen Verlag, der meine Bücher verlegt. Aber in dieser Nischen-Landschaft der Bücher zu schreiben ist auch schon so eine Hauruck-Aktion. Man hat drei Monate Zeit, sich zu bewähren, und dann fliegst du auch schon raus aus den Listen. Wenn du da nicht einen Bestseller landest, kommst du nicht zum Ruhen, sondern musst sofort weitermachen, weitermachen, weitermachen.

derStandard.at: Wie wirkt sich dieser Konkurrenz-Druck auf den Journalismus aus?

Berg: Keine Ahnung. Ich muss das Gott sei Dank nicht machen. Ich glaube, nicht gut. Ich habe mich auch dabei ertappt zu glauben, die Journalisten werden immer doofer. Aber ich denke, die haben auch keine Zeit, um nicht doof zu sein. Die Generation nach mir wird schlecht bezahlt, sie müssen wahnsinnig viel arbeiten und haben furchtbare Konkurrenz mit Online-Sachen. Früher hatte man einen Monat Zeit für eine Geschichte, das gibt es nicht mehr. Dann ist es leicht zu sagen, sie werden immer doofer, aber wie soll es denn gehen? Die ganze Welt wird doof.

derStandard.at: Sie haben am Podium gesagt, wir nehmen uns durchaus Zeit, im Internet zu surfen, lesen dort aber nur verschiedene Überschriften und glauben dann, informiert zu sein. Sollen wir lieber unser iPhone ausschalten und dafür mehr Reportagen lesen? Hätten wir davon mehr?

Berg: Ich glaube schon, dass man von der Langsamkeit mehr hätte. Aber das geht nicht mehr. Ich merke selber, obwohl ich die Generation vor dem Internet bin: Ich bin Internet-abhängig. Ich werde nervös, wenn ich keinen Zugang habe.

derStandard.at: Wie lange halten Sie es aus?

Berg: Es geht schon einen Tag. Aber es ist zum Arbeiten blöd, wenn man kein Internet hat. Ich denke mir immer: Wie hat man das früher gemacht? Da ist man in Büchereien gegangen. Das war ja total umständlich. Da ist das Internet großartig. Wenn man es großartig findet, muss man auch damit leben, dass es eine totale Beschleunigung ist.

derStandard.at: Was macht diese Kehrseite des Internets aus?

Berg: Es wird alles immer schneller und auch immer weniger sorgfältig. Die Menschen haben nicht mehr das Gefühl, sie haben Zeit, irgendwas richtig zu erforschen. Es langt gerade einmal dazu, zwischen Twitter, Arbeit und Freizeit schnell zehn Überschriften zu lesen, und dann denkst du, jetzt hast du es, jetzt weißt du es.

derStandard.at: Sie sind ja auch selbst auf Twitter - warum machen Sie das?

Berg: Damit ich nicht verblöde. Ich will alles wissen, ich möchte alles verstehen. Du kommst dann irgendwann eh nicht mehr mit, wenn du alles lesen möchtest. Das schaffst du nicht. Ich komme jetzt schon nicht mehr mit. Aber ich möchte wissen, was möglichst viele Menschen denken, mit denen ich nicht privat verkehre.

Es hat ja auch wahnsinnig viele Vorteile. Es sind viele Medienfuzzis da - habe ich Fuzzis gesagt? Es gab so einen Fall, wo irgend so eine Geschichte kolportiert wurde: Sibylle Berg verhindert die Aufführung von Schülern. Da kannst du sofort reagieren und sagen, das stimmt nicht, ich stelle das mal klar. Das hat so eine Direktheit, die gut ist.

derStandard.at: Manche sehen Twitter als Marketing. Versuchen Sie so, Ihren Stoff an die Menschen zu kriegen?

Berg: Da bin ich wahrscheinlich zu spät. Sascha Lobo ist da gut. Der hat das toll drauf. Ich kündige schon an, es gibt ein neues Buch und heute Abend bin ich hier oder dort. Aber mich zu bewerben, das ist mir eher peinlich.

derStandard.at: In Ihrer Personenbeschreibung auf Twitter steht: "Kaufe nix, ficke niemanden." Wie darf man das verstehen?

Berg: Nö, das ist eigentlich eine klare Ansage. Ich kaufe keine Windeln, wenn ihr mir jetzt folgt. Man braucht mir keine Werbung andrehen. Und ich bin auch nicht da, um Kontakte sexueller Natur zu machen. Männer brauchen mir nicht schreiben: Was machst du denn heute Abend?

derStandard.at: Wie schaffen Sie es, einerseits zu twittern und trotzdem die langen Texten nicht zu vernachlässigen?

Berg: Ich kann mich nicht acht Stunden am Tag konzentrieren. Ich finde das super: Wenn du irgendwo hängst, gehst du schnell auf Twitter und schaust, worüber regen die sich gerade auf? Und schon weiß man, was viele Menschen bewegt. Ich folge sehr vielen Menschen und lese auch sehr viel; um wirklich zu wissen, worum es ihnen da gerade geht.

derStandard.at: Das Thema des heutigen Abends war die Subjektivität im Journalismus. Sie haben die These vertreten, es gibt keine objektiven Reportagen. Glauben Sie, ist das für viele eine überraschende These gewesen?

Berg: Die Leute, die heute hier waren, waren ja sehr angenehme, informierte Menschen, die nicht glauben, was in der Zeitung steht. Es geht ja eher darum, dass es viele glauben. Es kaufen ja auch irre viele Menschen die "Bild"-Zeitung. X-Millionen Menschen bilden ihre Meinung durch diese Drecksmedien.

derStandard.at: Sie kritisieren die Medien. Bewirkt das etwas?

Berg: Ich glaube nicht, dass es was hilft. Denn diejenigen, die denken, wissen es eh, und die anderen lesen die "Kronen Zeitung". Die sind ja auch nicht hier und die finden mich doof.

derStandard.at: Es gibt Theorien, dass die neuen Medien auch uns Menschen und auch unsere Fähigkeiten verändern. Zum Beispiel, dass wir uns immer schlechter konzentrieren können. Ist da etwas dran?

Berg: Das wissen wir alle noch nicht. Das müssen wir bei der nächsten Generation beobachten. Ich sehe eigentlich einen großen Vorteil: Mehr Menschen tauschen sich aus, erhalten mehr Informationen; nicht nur in eine Richtung, sondern sie erfahren viele verschiedene Meinungen. Und ich find die neuen Medien auch für das Kontakteknüpfen großartig. Als ich jung war, gab es das Internet noch nicht. Ich saß meistens alleine da, weil ich nicht mit Menschen reden konnte. Für solche Gruppen wie mich wäre das großartig.

derStandard.at: Ein letztes Wort an die Medienfuzzis? Ein Appell, ein Wunsch, eine Beschwerde?

Berg: Einfach nicht abschreiben! Das ist das, was mich nervt. Wenn ich Journalisten treffe wie euch oder andere, bin ich immer ganz entzückt, weil die meisten ja sehr nett sind. Wenn du dann Leute nicht siehst und nicht mit Ihnen direkt redest, dann schreiben sie irgendwelche Vorurteilsscheiße. Ich denke mir: Nehmt euch die Zeit oder lasst es.

derStandard.at: Auf Twitter würden Sie sich jetzt verabschieden mit: Gute Nacht, ihr Arschkrapfen ...

Berg: (lacht) Tschüssi, Mädchen. (Katrin Burgstaller/Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 13.4.2012)