Juristin Pia-Maria Rosner, Soziologin Bernadette Feuerstein und Personalchefin Birgit Theyer (v. li.) über hohe Barrieren, faule Ausreden und verzerrte Chancen.

Foto: Standard/Andy Urban

Standard: Zwei Drittel der Betriebe erfüllen die Einstellungspflicht für behinderte Menschen nicht. Frau Rosner, wie erklärt man einer jungen Frau mit Behinderung, warum sie trotz guter Ausbildung und Studiums keinen Job bekommt?

Pia-Maria Rosner: Es gibt immer mehr behinderte Menschen, die trotz der wirtschaftlich schwierigen Lage in Beschäftigung stehen. Die entsprechende Quote war in den letzten zehn bis 15 Jahren relativ konstant. Es sind mehr als 100.000 behinderte Menschen in Beschäftigungsverhältnissen. Das zeigt das Engagement der Betriebe, und das sollte man würdigen.

Standard: Unternehmer müssen einen behinderten Arbeitnehmer pro 25 Mitarbeiter beschäftigen. Frau Theyer, können Sie in Ihrem Betrieb die gesetzlichen Quoten erfüllen?

Birgit Theyer: In manchen Bereichen ist das einfach nicht möglich. Die Vielzahl unserer Mitarbeiter sind Ar- beiter. Es wäre fahrlässig von uns, bei gewissen Tätigkeiten Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung zu beschäftigen. Die Arbeit ist zu gefährlich. Wesentlich einfacher ist es im Angestelltenbereich.

Standard: Frau Feuerstein, wird man als Mensch mit Behinderung von der Wirtschaft nicht als Leistungsträger gesehen?

Bernadette Feuerstein: Man wird nicht als Voller wahrgenommen. Man kann mitunter auch nicht die gleiche Leistung erbringen. Dafür gibt es aber viel Unterstützung für die betroffenen Menschen und Betriebe. In vielen Fällen ist es hingegen so, dass Menschen mit Behinderung Mehrarbeit und ein Vielfaches an Engagement erbringen - eben weil sie beweisen wollen, dass sie etwas leisten können.

Standard: Der raue Arbeitsmarkt trifft Behinderte am stärksten. Im März waren um 14,5 Prozent mehr arbeitslos als vor einem Jahr.

Feuerstein: Die Behindertenar- beitslosigkeit ist um 50 Prozent höher als jene unter Nichtbehinderten. Auch im Februar ist ihre Arbeitslosenzahl um 13,2 Prozent gestiegen. Das kann man nicht als Erfolgsmeldung sehen. Das ist ein Rückschritt. Aber selbst die Ministerien, die Vorbildwirkung haben sollten, erfüllen ihre Einstellungspflichten nicht. Auch hier ist die Entwicklung rückläufig.

Rosner: Das muss man differenziert sehen. Es gibt viele Betriebe, denen es gelungen ist, Behinderte gut zu integrieren. Andererseits gäbe es legistisch durchaus noch Maßnahmen, die es vielen Branchen einfacher machen würden, den gesetzlichen Auftrag zu erfüllen.

Theyer: Mich wundern diese Zahlen. Ich hätte vermutet, dass sie aufgrund der Lockerung des Kündigungsschutzes geringer sind.

Standard: Nach einer Gesetzesänderung ist der besondere Kündigungsschutz für behinderte Menschen seit 2011 erst nach vier Jahren wirksam. Warum zeitigt das keinen Erfolg? Was braucht es für bessere Zugänge zum Arbeitsmarkt?

Feuerstein: Die Lockerung hat keine Verbesserungen gebracht, diese Maßnahme greift nicht. Das war nur die Erwartung der Wirtschaft. Es wurde lang argumentiert, dass Behinderte aufgrund der strengen Kündigungsregeln nicht beschäftigt werden. Wir Betroffene haben schon damals gesagt, dass das faule Ausreden sind. Und die aktuellen Zahlen bestätigen es.

Rosner: Die neue Regelung gibt es erst seit knapp einem Jahr. Das gehört einmal erprobt, ehe man voreilig Schlüsse zieht. Es ist ein erster Schritt. In der Praxis gibt es jedoch nach wie vor Probleme mit dem Kündigungsschutz. Langfristig gesehen, gehört er ganz abgeschafft. Er verzerrt die Chancengleichheit für junge, gut ausgebildete Behinderte. Und er ist eine Barriere für die Betriebe. Was passiert, wenn sich das wirtschaftliche Umfeld ändert? Die Gründe ei- ner Kündigung liegen zudem fast nie an der Behinderung an sich.

Theyer: Wir haben Reorganisationen, Umstrukturierung, Abteilungen werden aufgelöst. Es ist extreme Flexibilität gefordert. Und diese wird einem durch solche Gesetze genommen. Viele Betriebe nehmen gesellschaftliche Verantwortung wahr. Der Wegfall des strengen Kündigungsschutzes würde dazu bewegen, mehr Menschen mit Behinderung aufzunehmen.

Feuerstein: Die Angst, jemanden nicht mehr kündigen zu können, ist nicht berechtigt. Muss wer Jobs abbauen, ist klar, dass davon alle betroffen sind. Solange aber die Arbeitslosigkeit unter Behinderten um so vieles höher ist als jene unter Nichtbehinderten, ist ein gewisser Schutz berechtigt. Arbeit ist ein Menschenrecht, auch für Behinderte. Der Markt wird insgesamt härter. Immer weniger Menschen arbeiten immer länger, immer mehr fallen aus dem System.

Standard: In der Praxis gehen die Kündigungen doch zu 90 Prozent im Sinne der Arbeitgeber durch ...

Rosner: Es geht durch, aber es dauert. Wird es innerhalb eines Jahres abgewickelt, ist ein Betrieb schon gut dran. Oft braucht es noch länger.

Theyer: Wir hatten einen einzigen Fall, bei dem es mit der Beschäftigung nicht geklappt hat, unabhängig von der Behinderung. Die Kündigung hat ein Jahr gedauert.

Feuerstein: Dass sich Verfahren so lang ziehen, ist nicht zumutbar. Aber Behindertenbeschäftigung lässt sich nicht über den Wegfall des Kündigungsschutzes regeln. Die Rechte der Arbeitnehmer werden zunehmend beschnitten, vor allem wenn es wirtschaftlich vermeintlich enger wird. Wollen wir den Kündigungsschutz für alle aufheben? Es gibt über Jahre erkämpfte Rechte. Passen sie der Wirtschaft nicht, sind sie mit einem Fingerschnippen weg. Aber so leichtfertig darf man damit nicht umgehen.

Standard: Die Strafe, die Betriebe für die Nichteinstellung Behinderter zahlen, lässt sich meist aus der Portokasse berappen. Geht es nur mit Zwang und höheren Pönalen?

Rosner: Die Ausgleichstaxe wurde bereits erhöht. Und die Unternehmen zahlen sie auch nicht aus der Portokasse. Die Quote zu erfüllen ist oft auch gar nicht möglich. Es sind vielfach die entsprechenden Leute am Arbeitsmarkt nicht verfügbar. Viele Betriebe melden sich bei uns, die Menschen mit Behinderung wollen, aber keine finden.

Theyer: Die Taxe tut Betrieben weh, vor allem den kleineren. Bei Stellenausschreibungen ist der Anteil an Menschen mit Behinderung, die sich bewerben, verschwindend gering.

Feuerstein: Höhere Strafen sind eine notwendige Maßnahme. Eine andere sind Kriterien für öffentliche Vergaben und Förderungen rund um die Integration von Behinderten. Wichtig ist es auch, Betriebe über Unterstützungsmöglichkeiten aufzuklären. Ich selber habe persönliche Assistenz am Arbeitsplatz und bin damit trotz meiner Beeinträchtigung keine Belastung für Arbeitgeber. Das ist eine Leistung des Bundessozialamts - aber nur wenige hundert Menschen nehmen sie in Anspruch. Sie ist viel zu wenig bekannt.

Standard: Endet die Integration nach der Schulausbildung?

Feuerstein: Nach der neunten Schulstufe sind die Integrationsbemühungen am Ende. Es gibt Beschäftigungsprogramme sonder Zahl, die aber wenig dazu dienen, Menschen mit Behinderung auf dem normalen Arbeitsmarkt zu integrieren. Sie landen in irgendwelchen integrativen Betrieben, die ja jetzt nicht mehr Therapiewerkstätten heißen, aber in Wahrheit immer noch Sonderarbeitsplätze sind. Problematisch dabei ist auch, dass viele Förderungen an die Beschäftigung geknüpft sind, für ein Auto, für Rehabilitation, Adaptierungen am Arbeitsplatz oder in der Wohnung. Wer in Sonderformen beschäftigt ist, fällt hier raus.

Standard: Ist Schwellenangst letztlich die größte Barriere für behinderte Menschen am Arbeitsmarkt? Welche Erfahrungen bleiben, wenn die Vorurteile weg sind?

Rosner: Es gibt viele, vor allem kleine und mittlere Betriebe, die müssten keine Menschen mit Behinderung beschäftigen, aber sie tun es trotzdem - aus Überzeugung.

Theyer: Spüren Mitarbeiter, dass Unternehmen soziale Verantwortung tragen, ist die Bindung und Zufriedenheit höher. Es ist für das Betriebsklima wertvoll.

Feuerstein: Ich war die erste behinderte Mitarbeiterin in der Konsumentenschutzsektion des Sozialministeriums. Heute sind wir vier von 30 Beschäftigten. Es geht nicht mehr um behindert oder nicht, sondern um menschliche Eigenschaften, um Engagement und Leistung. Es gibt ein Umdenken, stärkerer sozialer Zusammenhalt entsteht. Das bringt auf längere Sicht auch den Unternehmen was. Man muss sie ermutigen, ihnen Ängste nehmen, sagen: Traut euch doch, probiert es. Die Ängste sind da, weil die Erfahrungen fehlen. Kenne ich niemanden mit Behinderung, fürchte ich mich. Aber mit dem persönlichen Kontakt vergeht auch die Angst. (Verena Kainrath, DER STANDARD, 13.4.2012)