Straßburg - Das Inzestverbot für Geschwister im deutschen Strafrecht stellt keinen Verstoß gegen das Grundrecht auf den Schutz des Familienlebens dar. Zu diesem Schluss kommt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in einem am Donnerstag in Straßburg veröffentlichten Urteil. Die sieben Richter einer kleinen Kammer des Gerichts wiesen einstimmig die Beschwerde des 36 Jahre alten Patrick S. aus Leipzig ab, der in Deutschland wegen sexueller Beziehungen mit seiner leiblichen Schwester zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden war.

In dieser Frage gebe es in den 47 Mitgliedsländern des Europarats keinen Konsens, stellten die Straßburger Richter fest. Somit stehe den deutschen Behörden ein "weiter Beurteilungsspielraum" zu. Im übrigen hätten die Gerichte in Deutschland bei der Verurteilung des Klägers eine "sorgfältige Abwägung der Argumente" vorgenommen.

Urteil nicht rechtskräftig

Das Straßburger Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Der Beschwerdeführer kann dagegen binnen drei Monaten Rechtsmittel einreichen. Der Gerichtshof kann die Klage dann zur Überprüfung an die Große Kammer mit 17 Richtern verweisen. Er muss dies aber noch nicht tun.

Der Kläger Patrick S. war mit drei Jahren in ein Kinderheim gekommen und anschließend in einer Adoptionsfamilie aufgewachsen. Erst mit 24 Jahren lernte er seine um acht Jahre jüngere Schwester kennen. Zwischen den beiden entwickelte sich eine Liebesbeziehung. Das Paar lebte mehrere Jahre zusammen und bekam zwischen 2001 und 2005 vier Kinder, von denen zwei leicht behindert sind.

Drei Jahre in Haft

Patrick S. wurde daraufhin wegen Inzests angeklagt und verurteilt. Er zog bis vor das deutsche Verfassungsgericht, das seine Beschwerde im Februar 2008 abwies. Der Mann musste seine Strafen absitzen. Seinem Anwalt Endrik Wilhelm zufolge verbrachte er drei Jahre und einen Monat hinter Gittern. Die Verfahren gegen die Schwester, die geistig leicht zurückgeblieben ist, wurden hingegen eingestellt.

Mit sechs Stimmen gegen eine entschied damals das Verfassungsgericht, Ziel des Gesetzgebers sei es, "die familiäre Ordnung vor den schädigenden Wirkungen des Inzests" zu bewahren. Das Verbot sei auch kein "unzulässiger Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung", da der Beischlaf zwischen Geschwistern auch "in die Familie und die Gesellschaft hineinwirken" und negative Folgen für gezeugte Kinder haben könnten. Die Karlsruher Richter präzisierten, das Verbot gelte nur für den Beischlaf, andere Sexualpraktiken und "Möglichkeiten intimer Kommunikation" blieben straffrei.

Paar lebt mittlerweile getrennt

Der Leipziger wirft der deutschen Justiz vor, die Strafermittlungen gegen ihn hätten seine eigene Familie zerstört. Nach Angaben seines Anwalts trennte sich das Paar aufgrund der Verurteilung des Mannes. Drei der Kinder leben heute in Pflegefamilien, die jüngste Tochter ist bei der Mutter.

Paragraf 173, Absatz 2 des deutschen Strafgesetzbuches verbietet den Beischlaf leiblicher Geschwister miteinander und bedroht diese Tat mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren bzw. einer Geldstrafe. Zur Tatzeit Minderjährige bleiben dabei straffrei. Im österreichischen Strafgesetzbuch gilt laut dem "Blutschande"-Paragrafen 211, Absatz 3 für das gleiche Delikt eine Strafandrohung von bis zu sechs Monaten. (APA, 12.4.2012)