Bild nicht mehr verfügbar.

Österreichs Haltung zum Bankgeheimnis ist für Ulrich Thielemann noch lange nicht gegessen.

Foto: Reuters/Peter

Thielemann: "Wir brauchen den automatischen Datenaustausch weltweit."

Foto: Katja Hoffmann

Warum es eine Schande für Österreich ist, am Bankgeheimnis festzuhalten, und warum eine Gesellschaft mangels Ethik gegen reiche Investoren nichts ausrichten kann, erklärt der deutsche Ökonom Ulrich Thielemann im Interview mit Hermann Sussitz.

derStandard.at: Wissenschaftler fordern eine grundlegende Öffnung der Wirtschaftswissenschaften. Was heißt Öffnung?

Thielemann: Die Wirtschaftswissenschaften, das gilt für Volks- und Betriebswirtschaftslehre gleichermaßen, vertreten im Kern eine einzige Weltsicht. Dies ist bereits problematisch, denn eine Wissenschaft, die grundlegend andere Sichtweisen negiert, hat ihre Berechtigung eigentlich verloren.

derStandard.at: Worin besteht die Weltsicht dieser Ökonomen?

Thielemann: Ökonomen betreiben im Kern eine Ökonomisierung des Denkens und dadurch der Welt. Das ist ethisch hochproblematisch. Eine Folge ist die ökonomische Radikalisierung in der Unternehmensführung.

derStandard.at: Wie äußert sich die im Firmenalltag?

Thielemann: Die Manager sagen sich: "Aktuell haben wir eine Eigenkapitalrentabilität von acht Prozent. Wenn wir aber die Hälfte der Belegschaft durch günstiger Arbeitende austauschen, dann schaffen wir doch 15 Prozent. Also, warum machen wir das nicht? Sonst betreiben wir doch Wertvernichtung und schütten Wasser in den Rhein." Das ist die ökonomische Radikalisierung, die die Leute auch zu spüren bekommen. Und das ist die Botschaft, die den Studierenden mit auf den Weg gegeben wird. Mit Max Frisch gesprochen: "Vernünftig ist, was rentiert." Und da dies kein bisschen reflektiert wird, lässt sich sagen: Das ist eigentlich Gehirnwäsche.

derStandard.at: Sie bezeichnen die Politik als ohnmächtig. Ist sie das denn wirklich?

Thielemann: Ja, natürlich. Jedenfalls derzeit. Das Ende der Demokratie ist ein riesiges Thema. Wenn die Staaten letztlich vor allem wettbewerbsfähig sein sollen, dann ist das Ende der Politik eingeleitet. Ich zitiere immer Angela Merkel, die nach dem Crash der Finanzmärkte 2008 sagte, man brauche wieder eine menschliche Marktwirtschaft, und dies gehe nur mit einer neuen Weltwirtschaftsordnung. Es bedürfe einer Wirtschafts-UN, um die globalen Marktkräfte zu mäßigen. Diese weltpolitische Ebene haben weder Politik noch Medien aufgegriffen. Darum muss es heute gehen.

derStandard.at: Dass es dieses gemeinsame Denken nicht gibt, sieht man ja auch bei der Finanztransaktionssteuer.

Thielemann: Genau. Hier kommen die beiden wichtigsten Ingredienzien der Eurokrise zum Tragen: Marktlogik und Eigeninteresse. Wenn die Briten die Finanztransaktionssteuer ablehnen, dann vor allem wegen ihres Vertrauens in den Markt. Das Eigeninteresse (im Londoner Finanzzentrum wird rund ein Viertel der britischen Wertschöpfung erzielt, Anm.) ist zwar stark, die Marktgläubigkeit ist aber der entscheidende Baustein. Dabei hätte eben gerade so eine Steuer den Sinn, Blasenbildungen in der Zukunft zu erschweren. Die Einnahmen daraus sind nur von sekundärem Interesse.

derStandard.at: Ein anderes aktuelles Thema ist die Schwarzgeldproblematik.

Thielemann: Ein Staat, der sich dem automatischen Datenaustausch verweigert, betreibt Diebstahl am Steuersubstrat anderer Staaten. Dafür gibt es keinerlei Rechtfertigung. Ich bin immer noch erstaunt - "Shame on you, Österreich" -, dass Österreich hier nicht mitzieht. Ich glaube, man ist sich gar nicht bewusst, wie wichtig das wäre, um endlich wieder zu einer angemessenen Besteuerung des Kapitals zu kommen. Wir brauchen den automatischen Datenaustausch weltweit, sonst kommt die Weltgemeinschaft nicht davon weg, dass das Kapital hofiert und fiskalisch privilegiert wird. In der EU unterlaufen Österreich und Luxemburg die an sich anstehende Regulierung (das heimische Bankgeheimnis macht weiter Einlagen aus dem Ausland möglich, die dem ausländischen Fiskus unbekannt sind, Anm.).

derStandard.at: Österreich will ja wie Deutschland ein Steuerabkommen mit der Schweiz. Immerhin werden über 40 Milliarden Euro nicht deklarierte Gelder in der Schweiz vermutet.

Thielemann: Das ist doch unglaublich. Dieses Verhalten macht deutlich, welch große Schuld Österreich durch sein eigenes Bankgeheimnis auf sich lädt. Hier auch gegen innen, vor allem aber gegen außen, die EU und letztlich die Weltgemeinschaft. Noch einmal, "Shame on you". Denn diese sogenannten bilateralen Doppelbesteuerungsabkommen mit Abgeltungssteuer haben das Ziel, den Regimewechsel zum automatischen Informationsaustausch zu vermeiden, und sonst gar nichts. Die Schweiz ist mit diesen Deals bereit, große Mengen an Kapital herzugeben (Deutschland erwartet sich für 2013 dadurch zehn Milliarden Euro, Österreich eine Milliarde, Anm.), aber keinen Informationsaustausch. Es geht ihr nur darum, das Finanzbusiness nicht zu gefährden. Damit wird die legitime Steuersouveränität anderer Staaten unterlaufen. Ich bin erschüttert, dass das in Österreich kein Thema ist.

derStandard.at: Anderes Thema: Warum ist die Finanzwirtschaft erst in den letzten 15 Jahren so mächtig geworden?

Thielemann: Lange war der Keynesianismus ein gewisser Gegenpol zu den marktradikalen Thesen von Friedman oder Hayek. Die Entwicklung dauert also schon lange, in der unternehmerischen und sozialpolitischen Praxis hat sich das Marktprinzip seit den 1980er Jahren immer mehr festgesetzt. Es war also ein langer gesellschaftlicher Prozess.

derStandard.at: Markt ohne Regulierung wird momentan allerorts kritisiert.

Thielemann: Ja, denn 2008 ist die ganze Sache ja in sich zusammengefallen. Es wurde klar, dass man das Kapital in einer Weise hofiert hat, die die Realwirtschaft überfordert hat. Die Beschäftigten konnten dieser gigantisch angewachsenen Kapitalblase keine entsprechenden Renditen erwirtschaften.

derStandard.at: Stichwort Bankenrettungen: richtig oder falsch?

Thielemann: Es gibt hier keine einfachen Lösungen. Ich bin aber dezidiert der Meinung, dass die Vermögensbestände, die da in den Büchern stehen - und ich wüsste gerne, wo die genau stehen -, abgebaut werden müssen. Denn je mehr Kapital, desto mehr Wettbewerbsdruck. Die Staatsschuldenkrise ist nun die neue Blase. Die Schulden der Staaten sind ja nicht durch höhere Staatsausgaben so stark angewachsen, sondern durch Bankenrettungen infolge der Subprime-Krise. Aber auch schon vorher galt: Anstatt das Kapital zu besteuern, hat man sich beim Kapital verschuldet. Die Frage ist nun, wie man die Kapitalbestände abbaut, ohne dass das zu einer Katastrophe führt.

derStandard.at: Sie vertreten eine ethisch-integrierte Sicht. Was ist für Sie der große Unterschied zum Status quo?

Thielemann: Die Mainstream-Ökonomen, auch die Keynesianer, sehen nicht, dass wir mit dem Wettbewerb uns Menschen selbst ins Verhältnis setzen. Die glauben, das Wachstum passiert in Modellen, auf dem Mond vielleicht. Aber nicht in der Gesellschaft, von Mensch zu Mensch. Dies ist ja auch nicht sofort offensichtlich, weil die wettbewerblichen Verhältnisse auf den globalen Märkten hoch komplex sind und sozusagen "unsichtbar" ablaufen. Darum gerät die Frage, ob wir diese Wachstumserzeugung überhaupt schaffen können, wollen oder sollen, gar nicht in den Blick.

derStandard.at: Welche Frage müssten sich die Menschen jetzt stellen?

Thielemann: Wollen wir ein "jeder gegen jeden", unbedingt und grenzenlos, wollen wir mehr Güter - und darf uns das Kapital in beliebigem Ausmaß unter Wettbewerbsdruck stellen?

derStandard.at: Was bedeutet für Sie Ethik. Wie bringen Sie sie in den Alltag?

Thielemann: Die gegenwärtige Ökonomik hat auch ihre Ethik. Deren Botschaft lautet eben: Richtig oder "rational" ist, was rentiert. Der Homo oeconomicus lässt grüßen. Nun meinen Verhaltensökonomen aber herausgefunden zu haben, dass viele Menschen so nicht agieren. Der Ökonomismus zeigt sich darin, wie man dies klassiert: Aha, sagen sie, schaut her, die Leute handeln "irrational". Diese Klassierungsfrage, das ist letztlich die ethische Frage. Eigeninteressenmaximierung ist natürlich nicht vernünftig, das verdient nicht die Auszeichnung "rational". Es bedarf einer Revolution der Denkungsart. Ob etwas richtig ist oder nicht, muss in alltäglichen Entscheidungen wieder eine Rolle spielen - und vor allem reflektiert werden. 

derStandard.at: Unter den Professoren, die Ihr Memorandum für ein neues Wirtschaftsdenken mittragen, findet sich immerhin auch der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann.

Thielemann: Ja, darüber habe ich mich sehr gefreut. Ich schätze ihn sehr, vielleicht kann er als große Figur in Österreich etwas bewegen. (Hermann Sussitz, derStandard.at, 10.4.2012)