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In den Straßen Sarajevos erinnert man sich noch überall an die Opfer der Heckenschützen.

Foto: REUTERS/Danilo Krstanovic

"Do You Remember Sarajevo?" - so hieß ein bosnisch-herzegowinischer Dokumentarfilm, in dem ausschließlich durch Amateurvideos die Belagerung der Stadt dargestellt wurde.

Am 6. April jährt sich der Kriegsbeginn in Sarajevo zum 20. Mal. Aus diesem Anlass füllen wieder Kriegserinnerungen aus der bosnisch-herzegowinischen Hauptstadt die Artikel in zahlreichen Zeitungen der Welt. So wie in den 90ern können LeserInnen von den USA über Großbritannien bis nach Deutschland und Österreich über das fast unmögliche Überleben in einer belagerten Stadt nachlesen, über Wasser-, Strom- und Nahrungsknappheit, über den Mut und den Lebenswillen der BürgerInnen, mit denen sie den Belagerern trotzten.

Auch in Sarajevo gedenkt man der 1.425 schwersten Tage seiner Geschichte: Auf die Hauptverkehrsader der lebendigen Innenstadt werden am 6. April 11.541 rote Stühle gestellt - für genauso viele Opfer, die während der Belagerung durch Granaten und Scharfschützen ums Leben kamen.

5. April: Großdemo gegen Krieg

Persönliche Erinnerungen an die Belagerung sind fragmentarisch - auf der einen Seite scheinen sie vage und aus der heutigen Perspektive fast unglaublich zu sein, auf der anderen sind sie wieder kristallklar, schmerzlich und belastend. So belastend, dass man sie sein ganzes Leben lang nie mehr loswerden kann. Gerne hätten die BürgerInnen von Sarajevo im April 1992 ein anderes Schicksal gewählt - man ging am 5. April zu Zigtausenden auf die Straße, um für Frieden und gegen den Krieg zu demonstrieren. "Bei uns in Sarajevo kann es doch keinen Krieg geben!", wiederholten meine Eltern und ihre Freunde wie in Trance.

Viel zu lange glaubten wir alle daran. Aus dieser Perspektive scheint diese eiserne Überzeugung ein Selbstverteidigungsmechanismus in einem Moment gewesen zu sein, in dem jeder von uns den Kriegshorror einfach nicht akzeptieren wollte. Tatsächlich konnte man sich ein Kriegsszenario in Sarajevo schwer vorstellen: Nur wenige Städte im ehemaligen Jugoslawien waren so durchmischt - man konnte kaum ein Stiegenhaus finden, in dem nicht Vertreter verschiedener Nationen und Konfessionen lebten.

Kanonendonner

Doch die Friedensdemonstrationen in Sarajevo endeten blutig: Serbische Freischärler töteten am 5. April 1992 zwei Friedensdemonstrantinnen, eine Studentin und eine Beamtin. Mit ihrem Tod ging auch die letzte Hoffnung verloren, den Wahnsinn des Krieges doch noch verhindern zu können. Am nächsten Abend, als meine Familie in der Küche versammelt saß, hörte man plötzlich Kanonendonner. Mein älterer Bruder und ich gingen ins Wohnzimmer, aus dem man noch immer die ganze Altstadt von Sarajevo wie auf einer Postkarte beobachten kann. Wir standen am Fenster im dunklen Zimmer. Den Himmel über der Stadt durchquerten plötzlich einige Leuchtgranaten. "Es ist Krieg", sagte mein Bruder.

Diese Szene, diese Worte stehen wie ein Granitblock in meinem Gedächtnis. Denn ab diesem Moment war alles anders. Noch am Vorabend hatte die Jugoslawische Volksarmee - mittlerweile völlig unter der Kontrolle des Milošević-Regimes - den Flughafen von Sarajevo besetzt. Die Zerstörung der Stadt konnte beginnen. In den Folgemonaten wurde dann der tödliche Gürtel um Sarajevo enger geschnallt. Nachdem es der Jugoslawischen Armee am 2. Mai misslang, in einem frontalen Angriff auf das Stadtzentrum das Gebäude des bosnisch-herzegowinischen Staatspräsidiums einzunehmen, verriegelte man die Stadt komplett. Wer nun fliehen wollte, konnte das nur im Rahmen von organisierten und von den serbischen Belagerern streng kontrollierten Konvois tun - meist Frauen und Kinder verließen so die umkämpfte Stadt. Meine Familie entschied, in der Stadt zu bleiben. Mit drei Söhnen, von denen zwei volljährig waren, war die Flucht fast unmöglich. 

Morbide Spiele

Für mich, damals ein 15-jähriger Bursch, war der Krieg etwas Schreckliches, aber zugleich auch Interessantes und Neues. Die Stadt war jeden Tag unter Beschuss, so war man gezwungen, in und ums eigene Haus zu bleiben - man schloss Freundschaften mit allen Gleichaltrigen aus der Nachbarschaft, horchte Granateneinschlägen zu und versuchte zu rekonstruieren, um welchen Granatentyp es sich handeln könnte. Auf einmal war jeder von uns ein Waffen- und Kanonenexperte. Immer, wenn eine Granate irgendwo in der Nachbarschaft einschlug, versuchte man Splitter davon zu sammeln - wer die besten Splitter hatte, der konnte in seiner Clique punkten. Morbide Spiele in einer Stadt, die vor den Augen der ganzen Welt so offen und so mutwillig getötet wurde.

Nach einer gewissen Zeit wurde das bloße Überleben in einer Großstadt unter ständigem Beschuss, ohne Strom, fließendes Wasser und mit knapp rationierter Nahrung, die mittels einer eingerichteten Luftbrücke in die Stadt kam, fast zur Normalität. Ging man in den ersten Kriegsmonaten jeden Tag regelmäßig in den Keller, um sich vor Granaten zu schützen, verzichtete man später auch darauf. Man widmete sich dem Überleben. Ganze Buchkollektionen aus den Privatbibliotheken oder alte Schuhe endeten in den provisorisch aus alten Ölkonserven hergestellten Öfen - denn heizen und kochen musste man.

"Vorsicht, Scharfschütze!"

Wir alle spielten uns in die Rolle eines beweglichen und atmenden Ziels für Hunderte von Kanonen und Scharfschützen ein, die auf den Bergen um die Stadt auf uns lauerten. Und sie waren brutal: Jeder, der sich auf eine den Bergen gegenüber offene Straße wagte, riskierte binnen einiger Sekunden den Tod. Wir lernten, über gefährliche Kreuzungen zu rennen. "Vorsicht, Scharfschütze!", stand überall auf den Tafeln oder Fassaden geschrieben. Doch der Tod erwartete uns nicht nur auf der Straße, Granaten schlugen in den Wohnungen, Häusern, Spitälern, Bibliotheken ein.

Die serbischen Belagerer schossen sogar auf Beerdigungen. Eine verrückte Dynamik hatten sie - oft sagte man, wenn eine Granate in der Nähe einschlägt, muss man noch zwei abwarten und sich erst dann aus der Sicherheit wieder auf die Straße begeben. Den unmöglichen Lebensbedingungen zum Trotz ging man ab 1993 in die Schule, viele arbeiteten auch. So wie in allen unmöglich schwierigen Situationen entwickelte sich unter den BürgerInnen von Sarajevo ein Solidaritätssinn - die Nachbarn kochten und saßen stundenlang beisammen. Etwas, worüber man heutzutage in Sarajevo immer noch mit Wehmut spricht. Denn damals hatte jeder von uns nur einen Wunsch: dass die Kriegsgräuel endlich zu Ende gehen. 

März 1996: Belagerung vorbei

Und das Ende kam: Obwohl die kriegerischen Auseinandersetzungen im November 1995 offiziell endeten, mussten die BürgerInnen von Sarajevo bis März 1996 warten, um wieder in alle Stadtteile zu kommen, die von den serbischen Truppen besetzt wurden. Nachdem man in Scharen über die ehemalige "Brücke der Brüderlichkeit und Einheit" in den vormals besetzten Stadtteil Grbavica kam, atmete jeder auf. Die Belagerung war vorbei, die Folgen davon werden noch viele Generationen prägen.

Die ungeheuerliche Terrorisierung von Sarajevo durch die Karadžić- und Mladić-Truppen war systematisch und gut durchdacht: Die meisten für die Stadt wichtigen Gebäude - wie die Nationalbibliothek - wurden gleich im ersten Kriegsjahr durch Granaten entweder in Brand gesetzt oder zerstört. Man versuchte, nicht nur Menschen, sondern auch die jahrhundertelange Tradition einer multikonfessionellen Stadt auszulöschen. Die Grausamkeit dieses Vorgehens hatte zum Ziel, einen dauerhaften Hass zu schüren, um die bosnisch-herzegowinischen Volksgruppen nie wieder zusammenbringen zu können.

Kriegswunden auch nach 16 Jahren

Haben Sarajevos Zerstörer das auch erreicht? Zum Teil schon - das gemeinsame Miteinander in der bosnisch-herzegowinischen Hauptstadt wird nie wieder so sein, wie es vor 1992 war. Die Kriegswunden sind auch 16 Jahre nach dem Belagerungsende groß. Die 1995 verabschiedete Verfassung im Friedensvertrag von Dayton zementierte ethnische Trennungen in Bosnien-Herzegowina: Auch in Sarajevo sind sie spürbar. Diese Stadt fristet heutzutage ihr Dasein in einem kaputten Staat am Rande Europas: ohne klare EU-Perspektive, während sich die Nachbarstaaten, die zu einem erheblichen Teil an der Tragödie Bosnien-Herzegowinas und Sarajevos beteiligt waren, Richtung EU bewegen. Aus der Sicht vieler ist das ungerecht.

Schon damals in den 90ern waren die belagerten BürgerInnen Sarajevos enttäuscht und verbittert, dass Europas Regierungen es weitgehend verabsäumten, dem bosnischen Kriegshorror ein schnelles Ende zu setzen. "Träumen Sie nicht, dass Europa hierher kommt und den Krieg stoppt", frohlockte damals der britische Lord David Owen, einer der zahlreichen Friedensvermittler im Bosnien-Krieg. Mehr als 100.000 Opfer - meist Zivilisten - sind die Folge. Die europäischen Regierungen haben das Miteinander in Bosnien-Herzegowina und Sarajevo und die Bedeutung seiner Erhaltung für das Projekt Europa nie verstanden. In einem Jahrhundert, in dem in ganz Europa die meisten multiethnischen und multikonfessionellen Städte in den Kriegen untergingen, hat Sarajevo offenbar nur auf seine Reihe warten müssen.

"Dieser Tage gleicht die EU dem Balkan in den 90ern", sagte kürzlich bei einer Lesung in Wien der bosnisch-kroatische Schriftsteller Miljenko Jergović. Tatsächlich weicht das mühsam konstruierte Miteinander in Europa immer mehr vor dem Nationalismus der Einzelstaaten zurück: In der EU von heute gibt es wieder die Guten und die Bösen, genauso wie am Balkan vor 20 Jahren. Ein Überlebender von Sarajevo stellt dabei mit viel Zynismus und einer Prise Trauer fest: Europa hat wieder nichts gelernt. (Nedad Memić, derStandard.at, 5.4.2012)