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Grass 2007 in Hamburg bei der Eröffnung einer Ausstellung seines grafischen Werks

Foto: REUTERS/Christian Charisius

Was Günter Grass (84) nunmehr "gealtert und mit letzter Tinte" zu Zeitungspapier gebracht hat, scheint dazu geeignet, selbst Wohlmeinende zum Kopfschütteln zu veranlassen. Die aktuelle lyrische Einlassung des deutschen Literatur-Nobelpreisträgers zum Nahostkonflikt bezeichnet zugleich Glanz und Dilemma der öffentlichen Person Grass.

Schon in den 1960er-Jahren wollte sich das Kind einer Familie von Kolonialwarenhändlern aus Danzig mit dem literarischen Ruhm allein nicht begnügen. Die Begegnung mit dem SPD-Politiker Willy Brandt machte aus Grass den engagierten Kommentator: den streitbaren Parteigänger der Sozialdemokraten, dem nichts abwegiger schien als der möglichst sanftpfötige Rückzug in den Elfenbeinturm.

Das moralische Mandat, das Grass bis heute zukommt, entspringt der Auffassung, dass ein Autor zu erkanntem Unrecht nicht schweigen dürfe. Der Schöpfer der unvergleichlichen Blechtrommel (1959), in der Grass seine kaschubischen Wurzeln mit beispielloser Wortgewalt bloßlegte, scheute fortan keine Gelegenheit zur publizistischen Intervention. Mit großer moralischer Rigorosität forderte Grass zum Beispiel die Aufarbeitung der Verstrickungen anderer in die NS-Zeit.

Sein öffentlicher Habitus passte zu Mahnern und Erziehern wie Heinrich Böll, die es aus Anlass bundesrepublikanischer Denkwürdigkeiten nicht länger in der Einsamkeit der Schreibstuben litt, sondern die es mit Macht in die Zeitungsspalten drängte.

Was den Dichter und Zeichner Grass nicht schon alles bewegte: Er rief das "Wahlkontor deutscher Schriftsteller" ins Leben. Er sprach sich im Februar 1990 vehement gegen eine rasche Wiedervereinigung aus und plädierte stattdessen für eine Föderation. Er brach wegen des Asylkompromisses 1992 mit seiner geliebten SPD. Er trat mit dem ganzen Gewicht seiner Autorität gegen die Rechtschreibreform auf. Er fand überdies Zeit für Gewerkschaftsarbeit und äußerte sich 2006 über die Mohammed-Karikaturenaffäre.

Doch mit dem späten Bekenntnis zu seiner Vergangenheit in der Waffen-SS im August 2006 brach bereits eine Debatte über Grass' Rolle als Moralinstanz in Nachkriegsdeutschland los. Es mag den in der Nähe von Lübeck lebenden Weltautor - der Pfeifenraucher ist in zweiter Ehe mit Organistin Ute Grunert verheiratet und hat sechs Kinder - immerhin beruhigen, dass keine Empörung über seine Tageseinlassungen die Bedeutung seiner Romane zu schmälern vermag. (Ronald Pohl, DER STANDARD, 5.4.2012)