Für die Aneignung des öffentlichen Raums gab es schon bessere Zeiten: Schülerfilm "Wem gehört der U-Bahn-Schacht?".

Foto: Caterina Krüger / Wien Museum
Foto: Caterina Krüger / Wien Museum

Wien-Identitäten in der Dose: Schüler des Gymnasiums Haizingergasse etikettierten Stadtzuschreibungen als Fertigessen.

Foto: Göltl

Eine Frau bewegt sich durch die Stadt. Sie trägt ein gelbes Oberteil und einen bunt gestreiften Rock. Die Kamera fokussiert ihre Beine. Bildschnitte zerlegen und verdoppeln die Aufnahme. Die Frau biegt um eine Ecke. Ein Mann lehnt an einem Verkehrszeichen. Als sie vorbeigeht, ergreift er ihre Hand, und versetzt ihr eine Ohrfeige.

Das Drama durchbricht den halbdokumentarischen Experimentalfilm Hernals von Hans Scheugl aus 1967. Um die Ohrfeigen-Szene reihen sich Betrachtungen des Straßenleben in dem Wiener Bezirk. Gespräche, die die Kamera aufschnappt, handeln von russischer Gefangenschaft. Die beiden Darsteller im Film sind die Aktionisten Valie Export und Peter Weibel.

Den Filmemachern von damals war der elfminütige Streifen, dessen Szenen jeweils von zwei Kameras aus unterschiedlichen Perspektiven gedreht wurden, eine Auseinandersetzung mit Bedeutungen von Realität und ihren Abbildern. In der Auseinandersetzung mit diesem und anderen filmischen Wien-Dokumenten versuchten sich nun Jugendliche im Rahmen eines Schulprojekts neue Perspektiven auf die Stadt zu erarbeiten und " Interaktionen zwischen Medien und Lebenswelten" auf die Spur zu kommen. Die Reflexionen der teilnehmenden Schüler in Form von Filmen und Installationen sind zur Zeit im Rahmen der Ausstellung "Wien am Screen" im Wien Museum am Karlsplatz zugänglich.

Scheugls Experimentalfilm stiftete die teilnehmenden Schüler des Gymnasiums Haizingergasse und der Theresianischen Akademie etwa zu einer Neuverfilmung der Ohrfeigen-Szene an. Derselbe Ort, die gleichen, nun mit Handys gefilmten Einstellungen transferieren das Drama in die Gegenwart. Der Film stellt die Frage: Wie viel von der Aussage, die die Intervention im Stadtalltag von damals ausmachte, gilt 35 Jahre später noch?

Durch die Perspektive der Schüler und durch die Referenz auf sogenannte "ephemere Filme" will die Ausstellung einen neuen Blickwinkel sowohl auf unmittelbare Lebenswelt als auch auf "repräsentative Wien-Räume" eröffnen. Ephemere Filme bezeichnen Gebrauchsfilme und Produktionen abseits kanonisierter Filmgeschichte: Amateurfilme, Werbefilme, Experimentalfilme oder alte Unterrichtsfilme. Mit dem Anknüpfen an die historischen, abseits des Mainstreams gesammelten Filmschnipsel stellen sich Fragen zur gesellschaftlichen Kodierung von Räumen und Stiftung von Erinnerung und Geschichte.

Was ist eigen, was ist fremd?

Grundlage der schulischen Beschäftigung waren die Filme, die im Projekt " Like Seen on the Screen", das durch das Forschungsprogramm Sparkling Science des Wissenschaftsministerium gefördert wird, aufbereitet wurden. Zugrunde lag unter anderem der umfangreiche Filmbestand des Österreichischen Filmmuseums. Christiana Perschon, Ilja Steffelbauer, Karin Fest und Marie-Noelle Yazdanpanah vom Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft haben das Projekt mit den Schülern umgesetzt.

Fünf Themenblöcke sind aus der Arbeit mit den Schülern entstanden. "Ein Film einer US-amerikanischen Familie, der 1938 in Wien aufgenommen wurde, führte zur Überlegung, wie die Stadt von außen betrachtet wird", sagt Fest. "Das wiederum führte zur Frage, wo Wien abseits bekannter Hotspots sehenswürdig ist. Wo sehen die Wiener ihre Lieblingsplätze? Oder wo will man sich als Einheimischer gar nicht aufhalten?" In einem der diesbezüglichen Filme holten die Schüler die Motive der 1930er-Jahre in die Gegenwart: Aus dem Fleischlieferant wurde ein Fahrradkurier, aus dem "Kraxenträger" ein "Backpacker". Hunde spielen einst wie jetzt eine große Rolle.

"Überraschenderweise hat die Thematik Verkehr und regulierter Stadtraum zur ausführlichsten Beschäftigung geführt", sagt Yazdanpanah. Ein um 1960 produzierter Wien-Werbefilm, der einen Flirt zwischen einer Buspassagierin im 13A und einem hinter dem Bus fahrenden Autofahrer zeigte, wird heute eher mit Unbehagen aufgenommen. Belästigung, Stalking waren Assoziationen der Schüler. Sie machten daraus den Kurzfilm Schrecklich verliebt.Mittels Veränderungen bei Schnitt und Musik ließen sie ihr Unbehagen über die in den 60er- Jahren positiv wahrgenommene Situation einfließen. "Die Kernaussage des Films wurde damit entscheidend verändert", sagt Yazdanpanah.

"Die Manipulation schürte Misstrauen gegenüber den Medien, weil lediglich durch Neuanordnungen in einem Film, der Wohlgefühl vermitteln soll, ein Horrorfilm werden kann." Projektleiter Siegfried Mattl vom Ludwig-Boltzmann-Institut sieht im Ergebnis der Beschäftigung mit ephemeren Filmen, den "Schmuddelkindern der Filmsammlungen", einen "aus vielen kleinen Puzzleteilen zusammengesetzten Stadtfilm abseits der Stereotypen und Klischees".

Gescheiterte Besetzung

Die Architektengruppe Zünd-Up dokumentierte 1970 ihre Besetzung der U-Bahn-Station Lerchenfelder Straße. Aus einer Reihe von Kunstaktion entstand der Film Metro. Mit diesen historischen Aktionismen haben sich die Schüler "wirklich schwergetan", sagt Yazdanpanah. Sie mussten zur Kenntnis nehmen, dass diese Art der politischen Agitation nur mehr sehr wenig mit ihnen zu tun hat. "Sie waren wirklich ernüchtert" und wechselten in "ihren U-Bahnschacht", in das Flex, eine Disco. (Alois Pumhösel, DER STANDARD, 4.4.2012)