Die Tuareg-Rebellen im Norden Malis fordern auch deshalb einen eigenen Staat, weil die Regierung in Bamako ihre Versprechen nicht gehalten hat, sagt die Sozialanthropologin Ines Kohl im Gesprach mit Julia Raabe.
STANDARD: An den Kämpfen im Norden Malis haben sich offenbar verschiedene Gruppen beteiligt. Neben den Rebellen der Tuareg-Nomaden ist auch von Islamisten die Rede, die Al-Kaida nahestehen. Wer agiert da eigentlich wie?
Kohl: Die Situation ist sehr unübersichtlich. Die Tuareg, die ja seit 1963 immer wieder Rebellionen im Norden Malis angezettelt haben, haben sich grob in der Nationalen Bewegung zur Befreiung des Azawad, kurz MNLA, gruppiert. Sie sind offiziell gegen Al-Kaida im Islamischen Maghreb (Aqmi), aber es mag Kontakte geben. Von Aqmi gibt es mehrere Splittergruppen, und sie sind in den Waffen- und Drogenschmuggel involviert. Dann gibt es verschiedene arabische Gruppen, die seit Jahrhunderten mit den Tuareg auf einem Gebiet leben und Teile der Kultur angenommen haben.
STANDARD: Wie eng sind Kontakte zwischen Tuareg und Islamisten?
Kohl: Die Tuareg praktizieren einen sehr liberalen Islam und lehnen jegliche Radikalisierung und Islamisierung ab. Aber Aqmi verfügt über große finanzielle Mittel, und daher mag es schon geschäftliche Kontakte geben. Nicht zuletzt profitieren die Tuareg auch von der Aufmerksamkeit, die Aqmi im Anti-Terror-Kampf zuteilwird. Wenn es Aqmi nicht gäbe, würde sich kein Mensch um Mali kümmern. Nun hat sich von der MNLA die Gruppe Ansar al-Din unter dem Tuareg-Anführer Iyad Ag Aghali abgespalten, die sich salafistisch nennt und einen islamischen Staat mit Schariarecht anstrebt. Sie war offenbar an Überfällen wie an jenem auf Kidal beteiligt.
STANDARD: Was strebt die Mehrheit der Tuareg unter der MNLA mit der Rebellion an?
Kohl: Der Unterschied zu den vorherigen Tuareg-Rebellionen ist, dass sie diesmal nicht mehr Dezentralisierung, sondern wirklich die Unabhängigkeit für die Region Azawad, die den gesamten Norden Malis umfasst, fordern. Und zwar für alle ethnischen Gruppen in diesem Gebiet: Tuareg, Peul, Songhay und verschiedene arabische Gruppen wie die Moor. Die malische Regierung hat ihre wirtschaftlichen Versprechen nach den letzten zwei Rebellionen (1990 bis 1995 und 2007 bis 2009, Anm.) nicht umgesetzt.
Der neue Aufstand jetzt speist sich aus den Mitteln, die aus dem zerbrochenen Libyen stammen. Ex-Machthaber Muammar al-Gaddafi hatte zehntausende Tuareg in die Armee integriert und sie somit für seine Interessen eingesetzt. Als das Land auseinandergefallen ist, haben sie Geld, Fahrzeuge und Waffen mitgenommen. Im Unterschied zu den vorhergehenden Rebellionen sind die malischen Tuareg nun extrem gut ausgerüstet, gut vernetzt und besitzen das nötige Know-how.
STANDARD: Der Großteil der 1,5 Millionen Tuareg der Region ist in Mali und im Niger. Besteht die Gefahr, dass die Kämpfe auch auf die anderen Staaten übergreifen?
Kohl: Der Niger hält sich im Moment stabil. Die nigrischen Tuareg sind um einen dauerhaften Frieden bemüht und haben wenig Interesse an einer weiteren Rebellion, wenngleich auch ihre Situation nach wie vor von ökonomischer und politischer Marginalisierung geprägt ist. (Julia Raabe, DER STANDARD, 04.04.2012)