Das mit dem Auf-dem-Boot-Schlafen, meint Erik Holo, wäre noch eine weitere Steigerung. Nicht etwa, weil jemand bei Nacht seekrank werden könnte: Geschlafen würde schließlich im Hafen. Auch nicht wegen der Enge: Skitourengeher sind enge Schlafkojen, spartanische Waschtische und rares Warmwasser meist gewohnt. Problematisch, so der Skipper, wäre etwas anderes: der Geruch. Denn während Skitourengewand sonst spätestens am dritten Tag meist einfach nur stinkt, käme beim Boot-Skitouring eines hinzu: "Der Trockenraum ist der Maschinenraum. Das bringt eine extra Duftnote."
Dass die Solli, das von Holo liebevoll restaurierte und in Schuss gehaltene 104 Jahre alte ehemalige Boot der norwegischen Küstenrettung, dennoch oft für Skitourentrips gebucht ist, steht dazu keineswegs im Widerspruch: Viele der schönsten Skiberge lassen sich am einfachsten per Schiff erreichen.
Doch sich aus einer der sieben knarzenden und engen Seemannskojen der Solli zu schälen, während das 47 Fuß lange Holzschiff sanft durch einen Fjord schaukelt, ist auch ohne hier verbrachte Nacht ein Erlebnis: Wo sonst wollte man - im Skigewand auf dem Gummiwulst eines Zodiacs sitzend und den Frühstückskaffee in der Hand - den ersten Strahlen der Sonne zusehen, wenn sie über den dunklen Berggraten aufblitzen, übers Wasser eilen und zögerlich Masten und Takelage eines alten Segelbootes wachküssen, um dann die steilen, bis zu 1200 Meter hohen Fjordwände hochzuklettern?
Schöner kann der Weg zur Einstiegsstelle in eine Skitour nicht sein. Und das wirkt nach, während es dann 1500 teils auch anspruchsvolle Höhenmeter hinaufgeht. Zu einem unvergleichlichen Ausblick auf Berge, Hänge, Himmel und Meer: "Blau, Weiß und Grün - das sind Romsdalens Farben", sagt Holo strahlend. Romsdalen, wo Holo daheim und unterwegs ist, liegt in Westnorwegen. Etwa 450 Kilometer von Oslo entfernt.
Und nicht nur der pensionierte Schiffssicherheitsprüfer ist fest davon überzeugt, dass der Romsdalfjord zu den schönsten Ecken Norwegens gehört: Auch Matti Bernitz, Norwegens international wohl bekanntester Reportage- und Bergfotograf, bezeichnet sich stolz als "Romsdalen-Wannabe" - und sieht keinerlei Anlass, zu widersprechen, wenn die Landschaft, die der Fluss Rauma in den Fels schnitt, mit dem Yosemite Valley verglichen wird: Die Wände hier locken im Sommer neben Kletterern vor allem die Weltelite der Proximity-Flyer (vulgo: Basejumper) an.
Flattermänner und -frauen
"An schönen Tagen", erzählt Tom-Erik Heimen, mit über 1500 unfallfreien Sprüngen einer der Stars in der Welt der Männer (und kaum Frauen), die in Flattermannanzügen mit 250 km/h die Felsen entlangfliegen, "sind hier 50 oder 60 Springer unterwegs." Heimen genießt Heimvorteil: "Ich komme von hier - und bin schon fast jedem Berg gesprungen."
Freilich: Während das Tourengehen, Wandern, Kajakfahren und Klettern überall erlaubt sind, muss der Basejumper manchmal schnell verschwinden: So ist das Springen vom Romsdalshorn dezidiert in einem Gesetz verboten worden - das Beklettern des pittoresken 1550-Meter-Horns ist jedoch erlaubt: Der Gipfel wird nicht nur wegen seines Aussehens von versierten Alpinisten gern mit dem Matterhorn verglichen.
Freilich: Das Drumherum ist anders. Denn eine Galerie einer der Legende nach vom Sonnenlicht zu Stein verwandelten Hochzeitsprozession von Trollen ("Trollvegen", zu Deutsch Trollwand) auf dem Berg gegenüber gibt es nur hier. Trollvegen ist, nur nebenbei, Europas höchste Klippe: 1000 Meter geht es hier senkrecht hinunter - oder überhängend.
"Endlich: Goretex-Wetter!"
Doch zum Klettern, erklärt Halvor Hagen, sei es noch ein wenig zu früh. Die Skisaison geht dafür bis in den Mai. Hagen ist einer der versiertesten Bergführer Westnorwegens. Sein Buch Toppturer i Romsdalen (leider nur auf Norwegisch erhältlich, aber dennoch gut verständlich) gilt als Standardwerk. Kein Wunder also, dass Fotograf Bernitz ihn buchte, als er Anfang März eine Gruppe junger Freerider fast eine Woche lang auf die Gipfel und Hänge der Roms- dalalpen geladen hatte: Die sechs hatten einen europaweit via Facebook ausgeschriebenen Wettbewerb des US-Textilgiganten Goretex - des Herstellers jener wasserabweisenden Membran, ohne die kaum ein Hersteller von Outdoorbekleidung heute auskommt - gewonnen.
Und bekamen in den Tagen am Fjord neben Postkartenwetter auch das vorgesetzt, was der Gore-Textilexperte Gaute Fonkalsrud eines Morgens beim Aufwachen schon vor dem ersten Blick aus dem Fenster fröhlich grinsend mit den Worten "Finally we have Goretex-Weather!" begrüßte: Ein Sturm rüttelt an den Holzwänden des 300 Jahre alten Hauses, in dem Skipper Holo Gäste unterbringt, die nicht auf dem Schiff schlafen.
Der Regen peitscht waagrecht und vermittelt eine Idee davon, wie unwirtlich Herbst und Hochwinter hier wohl sein können: Dass die Norweger sich da in früheren Zeiten zwischen den Bergen und Klippen einerseits von Trollen und anderen Fabelwesen umgeben sahen, andererseits aber auf der Suche nach freundlicheren, helleren und wärmeren Regionen zu Seefahrern wurden, die mit ihren Langschiffen weder Wind noch Wetter fürchteten, überrascht nicht.
Ab in die Schlammkiste
Einiges davon dürfte sich - nicht nur rund um Romsdalen - in den Genen festgesetzt haben: Schlechtwetter schreckt hier niemanden. Sogar auf den Kindergartenspielplätzen der regionalen Hauptstadt Molde tummeln sich im nasskaltem Regensturm die Kleinen ungerührt-fröhlich auf Klettergerüsten, Rutschen und in der Sand- oder hier: Schlammkiste.
Und auch für Halvor Hagen, Matti Bernitz und Erik Holo ist dieses Wetter kein Grund, nur eine Sekunde daran zu denken daheimzubleiben: Ein oder zwei besonders windexponierte Gipfel fallen halt aus. Aber jenes düstere Bleigrau, mit dem das Meer von unten gegen die - allem Anschein nach - gerade armhoch über den Köpfen hängenden Wolken antritt, am Berg dann nicht geradezu physisch gespürt zu haben hätte bedeutet, die einzige noch norwegischere Skitourenimpression als die Anreise mit der Solli ausgelassen, also versäumt, zu haben. (Thomas Rottenberg/DER STANDARD/Album/31.3.2012)