Sein oder Schein? Wahrheit oder Lüge? Im neuen Roman von Bettina Balàka werden Geheimnisse und Rätsel zwischenmenschlicher Beziehungen aufgedeckt.

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Dank ihres Vaters, eines aus Ungarn stammenden erfolgreichen Salzburger Bauunternehmers, und seiner Frau Johanna, ist Judit Kalman wie ihre Schwester Katalin finanziell völlig unabhängig und wohlhabend. Als sie in der Pubertät lernte, eine Esssucht in den Griff zu bekommen, setzte sie diese Arbeit des Fastens ihr ganzes Leben lang fort, es blieb "die einzige kontinuierliche Arbeit, die sie je geleistet haben würde."

Judit Kalman ist in den Vierzigern und verfolgt zielstrebig ihren Plan, den jungen Erfolgsautor Markus Bachgraben zu verführen, dessen erfolgreichen Debütroman "Kassiopeia" sie für ein "Meisterwerk" hält, das geschrieben worden war, um sie zu trösten.

Als Judit Kalman das Buch in einer Buchhandlung entdeckt, ist es allerdings schon zwei Jahre alt und ein Ladenhüter, der Erfolg des Autors Markus Bachgraben schon wieder verblasst. Der Satz "Am Ende steht die Gewissheit, dass jeder sein Glück findet, der mit offenen Augen durchs Leben geht" im Klappentext reicht aus, um Judit zum Kauf zu animieren und auf Glückssuche zu gehen. Noch dazu steht das Wort Kassiopeia auf ihrer Liste der Lieblingswörter an dritter Stelle. Und seit sie sich nach einigen Schicksalsschlägen in ihrem Leben, darunter der Selbstmord ihres Mannes am Weihnachtstag 2005, angewöhnt hat, ihr Leben nach Zeichen zu organisieren, setzt sie sich in den Kopf, mit dem Autor, der noch dazu wie sie in Salzburg aufgewachsen ist und in der Wiener Josefstadt wohnt, ein neues Leben zu beginnen und zu seinem " Schutzengel" zu werden.

Nachdem Judit Kalman nach einer Lesung eine Nacht mit ihrem Dichter verbracht hat, die für ihn offenbar nur ein One-Night-Stand war, beginnt sie ihm nachzuspionieren, seine Post zu lesen und entwickelt in ihrem Liebeswahn beachtliche kriminelle Energien, um ihr Ziel zu erreichen. Als sie herausbekommt, dass er nach Venedig fährt, um in der kostenlosen Schriftstellerwohnung (die es für österreichische Autoren tatsächlich gibt) an seinem neuen Roman zu arbeiten, reist auch sie in die Lagunenstadt, die für romantische Liebesabenteuer seit langem berühmt ist und der Autorin Gelegenheit zu raffinierten Spielen mit Bildern und Klischees ermöglicht. Und es trifft sich gut, dass ihre Freundin Tita dort eine große Wohnung besitzt, die sie ihr gerne im Austausch zu Judits Haus in Irland überlässt. Doch weil Judit in ihrem Freundinnenkreis bereits von der glücklichen Beziehung zu Markus Bachgraben schwärmt, wird sie ihrerseits von ihrer neugierigen Freundin Erika verfolgt, die ihr nach Venedig nachreist, um endlich Judits Phantom kennenzulernen.

Mit Witz und Komik inszeniert Bettina Balàka in ihrem neuen Roman " Kassiopeia", dessen Titel und Cover mit dem von Bachgraben identisch sind, eine Liebesgeschichte, in der Literatur und Leben immer wieder durcheinandergeraten und schließlich keiner der beiden Spieler die Fäden in der Hand hat. Es ist nicht mehr klar, wer ist der Verfolger und wer ist der Verfolgte. Denn auch Markus Bachgraben gebraucht Judit Kalman für ein Experiment und behandelt sie "wie eine literarische Figur", seinerseits von Kierkegaards "Tagebuch eines Verführers" inspiriert. Doch weil dieses Verwirrspiel von der Autorin ebenso rasant wie spannend erzählt wird, sei hier nicht mehr über seinen Ausgang verraten. Der Untertitel "Ein Märchen über die Liebe in eisigen Zeiten" einer Buchbesprechung von Bachgrabens Roman passt ebenso gut zu "Kassiopeia" von Bettina Balàka, obwohl die Handlung in der venezianischen Julihitze spielt.

Doch in Balàkas ebenso klugen wie amüsantem Roman hat nicht nur das Liebesspiel einen doppelten Boden. Auch alle anderen zwischenmenschlichen Beziehungen und ganz besonders die scheinbar geordneten bürgerlichen Familienverhältnisse weisen Risse auf und es fällt schwer, zwischen Schein und Sein, Wahrheit und Lüge zu unterscheiden. In Rückblenden werden oft auf nur wenigen Seiten in einem lakonischen Ton geradezu kuriose tragikomische Beziehungs- und Familiengeschichten voller Geheimnisse und Rätsel aufgeblättert, die oft ganz überraschend enden. Als praktikables Lebensprinzip erweisen sich jeweils Lösungen, die Illusionen bestehen lassen, nach dem Prinzip: Warum nicht Eier aus Legebatterien am Markt als "Frische Bio Bauerneier" verkaufen, wenn damit allen geholfen ist. Sie bringen mehr Geld und vermitteln den Kunden ein gutes Gefühl.

Erfindungen, Träume, Illusionen gehören gleichermaßen zum Leben wie zur Literatur. Was passiert, wenn man die Literatur mit der Wirklichkeit verwechselt und wie schwierig es andererseits bisweilen ist, das Leben in Literatur zu verwandeln - davon erzählt Bettina Balàka in ihrem furiosen neuen Roman "Kassiopeia" mit großer Brillanz und feiner Ironie. Wer weiß, vielleicht ist Venedig ja doch der Ort, an dem Träume wahr werden können.  (Christa Gürtler, Album, DER STANDARD, 31.3./1.4.2012)