Straßburg - 2011 war laut Europarat das bisher "tödlichste Jahr" für Flüchtlinge, die von Nordafrika nach Europa gelangen wollten. Der Versuch mit oft heillos überladenen Booten endete für mehr als 2000 Menschen tödlich. Und das, obwohl im Vorjahr die Passage wegen der politisch angespannten Lage in Nordafrika von der Nato und europäischen Küstenwachen besonders überwacht worden war.

Der Europarat kommt in einem Bericht, der am Donnerstag präsentiert und einen Tag zuvor auszugsweise im englischen "Guardian" vorab veröffentlicht wurde, zu dem Ergebnis, dass Nato und Seebehörden eine Mitverantwortung für das tödliche Schicksal der Bootsflüchtlinge habe. Der auf Menschenrechtsfragen spezialisierte Europarat deckt einen regelrechten Fehlerkatalog auf.

Konkret hat die Niederländerin Tineke Strik von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats den Tod von 63 Flüchtlingen aus Libyen im vergangenen März untersucht. Von Anfang hatte der Verdacht bestanden, dass die in Seenot geratenen Flüchtlinge ignoriert worden sein könnten. Das Boot war zwei Wochen lang manövrierunfähig im Mittelmeer getrieben, bevor es schließlich an die libysche Küste zurückgespült wurde. Die meisten der Opfer, darunter auch Kinder, verdursteten. Nur neun Flüchtlinge überlebten.

Kein Kontakt

Die Nato hat bisher Fehler bestritten. Doch wie Strik in ihrem Bericht penibel darlegt, ist das mehr als unwahrscheinlich. Aufgrund von Sichtungen auf hoher See hatte das in Rom ansässige Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC) entsprechende Funkrufe auf mehreren Frequenzen veranlasst. Abgesehen von den europäischen Küstenwachen müsse ein Nato-Schiff, das sich ganz in der Nähe des havarierten Flüchtlingsbootes befunden habe, die Nachricht erhalten haben. Dabei habe es sich um die spanische Fregatte Méndez Núñez gehandelt. Aber auch andere spanische und italienische Schiffe unter Nato-Kommando hätten zu Hilfe eilen können, heißt es im Europarats-Bericht, für den Strik neun Monate recherchiert hat.

Schilderungen von Überlebenden, wonach die Besatzung eines vorbeikommenden Militärschiffes nur Fotos gemacht und sogar ein Hubschrauber über den Flüchtlingen gekreist habe, konnten nicht bestätigt werden.

Bei der Nato erhielt der Europarat die Auskunft, dass kein Schiff des Militärbündnisses je Sicht oder Kontakt zu den Flüchtlingen gehabt habe. Der Funkruf aus Rom habe sich vage auf ein "möglicherweise in Seenot befindliches, kleines Boot" bezogen.

Der Europarat kritisiert unter anderem, dass es bei militärischen Einsätzen offenbar keine klaren Richtlinien für die Rettung von Zivilpersonen aus Seenot gebe und dass die Kommunikation schlecht sei. (simo, DER STANDARD, 30.3.2012)