Zugreisende von Bregenz nach Wien staunen nicht schlecht, wenn sie im Railjet der ÖBB namens "Neue Mittelschule" (NMS) den aufliegenden "Reisebegleiter" lesen. Dort erfahren sie, dass die NMS die "gemeinsame Schule für alle Zehn- bis 14-Jährigen" werde und somit künftig die " Entscheidung über die Schullaufbahn erst mit 14 statt mit zehn Jahren" erfolge.

Schön wär's. Doch leider handelt es sich nur um Propaganda. Denn die Neue Mittelschule wird auch künftig parallel zu den AHS-Unterstufen und zur Sonderschule geführt.

Somit gibt es auch weiterhin keine "gemeinsame Schule für alle Zehn- bis 14-Jährigen", und die "Entscheidung über die Schullaufbahn" wird nach wie vor mit neuneinhalb Jahren erfolgen.

Im Unterrichtsministerium weiß man das natürlich, behauptet aber trotzdem das Gegenteil. So finden auch jene Eltern, die sich auf der Homepage des Ministeriums sachkundig machen wollen, diese schlichte Lüge:

"Voraussetzung für eine Neue Mittelschule ist die Anwendung des AHS-Lehrplans." Im heute zu beschließenden Gesetz steht das genaue Gegenteil:

"Die Bildungs- und Lehraufgaben sowie der Lehrstoff haben sich je nach den örtlichen Gegebenheiten am Lehrplan der Hauptschule oder der Neuen Mittelschule zu orientieren."

Im Gesetz wird auch gar nicht mehr so getan, als ob es sich hier zumindest um ein Schrittchen in die richtige Richtung handle. Man bekennt freimütig: Die Neue Mittelschule ist die "pädagogische Weiterentwicklung der Hauptschule auf der Sekundarstufe I".

Gegenüber der bestehenden Situation ist das sogar ein Rückschritt: Denn bislang musste laut Gesetz in den Hauptschulen wenigstens in der Ersten Leistungsgruppe auf dem Niveau der AHS-Unterstufe unterrichtet werden. In Zukunft reicht statt dieser klaren Bestimmung das vage Versprechen einer "pädagogischen Weiterentwicklung".

Die Differenzierung in AHS und die künftige NMS bildet nicht Begabung und Leistungsfähigkeit der Schüler/-innen ab, sondern lediglich deren soziale Herkunft. Denn misst man die Leistungen von Schülern und Schülerinnen extern, so stellt sich heraus, dass selbst ein "Sehr gut" in der AHS mitunter für eine schlechtere Leistung gegeben wird als ein "Genügend" in der Dritten Leistungsgruppe der Hauptschule.

Umgekehrt gilt etwa für die Hörverständniskompetenz in Englisch, die in den vom Ministerium geforderten und abgeprüften Bildungsstandards gemessen wird: Fast die Hälfte der Schüler/-innen der Zweiten Leistungsgruppe und selbst noch etwa ein Viertel der Dritten Leistungsgruppe erbringen AHS-reife Leistungen. Ihre Aussichten auf einen Aufstieg durch Bildung sind aber - anders als bei den keineswegs besseren Gymnasiastinnen und Gymnasiasten - sehr gering. An dieser Ungerechtigkeit ändert auch die künftige NMS nichts, denn mit der Einführung einer "grundlegenden" und einer "vertiefenden" Allgemeinbildung kommt es in den NMS de facto zu einer Wiedereinführung einer Ersten und Zweiten Leistungsgruppe.

Der Kardinalfehler unseres Schulsystems ist die viel zu frühe Trennung der Kinder nach der Volksschule. Doch gerade auf dieser Trennung beharrt die ÖVP, weil sie dem Reformwiderstand des allmächtigen Gewerkschaftsbosses Fritz Neugebauer nichts entgegensetzen kann und wohl auch nicht will. Als gelernter Lehrer handelt er wider besseres Wissen: Das Schulsystem soll bleiben, wie es ist - lediglich das Türschild an der Hauptschule wird ausgetauscht und durch eines mit der Aufschrift "Neue Mittelschule" ersetzt.

Unsere Bildungspolitik ist im Railjet unterwegs wie weiland Qualtingers "Wilder mit seiner Maschin'":

Man hat zwar keine Ahnung, wo man hinfährt, aber dafür ist man g'schwinder dort! (Harald Walser, DER STANDARD, 29.3.2012)