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Vielleicht ein kleiner Trost - der Slogan auf dem Plakat einer Kapitalismuskritikerin.

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Stefan Riße: "Es gibt keinen risikolosen Zins mehr."

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Die Europäische Zentralbank (EZB) will mit ihrer Politik des billigen Geldes die Inflation provozieren, um die Schulden in Europa über Inflation loszuwerden, sagt der Autor und Vermögensberater Stefan Riße. Die Bürger und Bürgerinnen müssen sich nach seiner Ansicht künftig in Sachen Inflation auf ein weit höheres Niveau einstellen, und das über einen ziemlich langen Zeitraum.

derStandard.at: Seit Sie Ihr Buch "Die Inflation kommt" veröffentlicht haben, sind Sie ein begehrter Gesprächspartner. Das Thema beschäftigt die Menschen offensichtlich sehr.

Riße: Definitiv. Natürlich bekommen die Leute mit, was die Europäische Zentralbank macht. Die schöpft Geld. Sie kauft jetzt nicht selbst die Staatsanleihen in höherem Volumen auf. Aber sie tut es, indem sie das Geld den Banken über die sehr günstig verzinsten Dreijahrestender leiht. Die kaufen davon höher verzinste Staatsanleihen. Damit erhöht sie natürlich die Inflationsgefahr. Ich gehe sogar weiter: Sie will die Inflation damit provozieren, um die Probleme, die wir in Europa haben, über Inflation loszuwerden.

derStandard.at: Auch die US-Notenbank Fed gab der Finanzwirtschaft viel billiges Geld in die Hand. Im Gegensatz zur Fed hat die EZB die Zinsen aber lange Zeit auf vergleichsweise hohem Niveau belassen. Sie meinen dennoch, Europas Währungshüter könnten sich von der Geldwertstabilität als oberster Priorität verabschieden?

Riße: Ja. Wenn man ein Prozent als vergleichsweise hoch nimmt, bei einer Inflation von drei Prozent, dann ist das historisch gesehen natürlich vergleichsweise sehr niedrig. Im Vergleich zu den USA, wo die Leitzinsen bei 0,00 bis 0,25 Prozent liegen, ist die EZB noch konservativer gewesen. Sie hat sogar die Zinsen unter Jean-Claude Trichet angehoben. Das war ein Fehler, den Mario Draghi gleich rückgängig gemacht hat.

derStandard.at: Ihre These ist also, dass der deflatorische Ansatz dem gesellschaftlichen und politischen Konsens widerspricht und dass man jetzt die Schulden weginflationieren will?

Riße: Genau. Die gesamte westliche Welt will die Schulden weginflationieren. Die Briten wollen das, die Franzosen wollen das, die Amerikaner wollen das und die südlichen Länder in Europa wollen das auch. Die Einzigen, die das nicht wollen, sind die Deutschen.

derStandard.at: Das Gespenst der Hyperinflation spukt in den deutschen Köpfen wohl noch kräftig herum?

Riße: Die Deutschen hatten tatsächlich dieses Trauma mit den Inflationen. Wenn man aber die deutsche Geschichte anschaut, sieht man, dass nicht Inflation, sondern Deflation uns ins dunkelste Kapitel unserer Geschichte, nämlich direkt ins Dritte Reich, geführt hat. Es gab damals die Währungsreform und dann eine quasi fast statistische Spar- und Deflationspolitik unter dem damaligen Reichskanzler Heinrich Brüning, die die Arbeitslosigkeit in der Weimarer Republik und damit die Wählerstimmen für die NASDAP nach oben getrieben hat. Insofern müsste unser größtes Trauma auch die Deflation sein. Aber der Sparer hat das anders erlebt. Der hat eben sein Geld durch Inflation verloren. Deswegen stehen wir Deutschen auf der Bremse.

derStandard.at: Wiewohl der Widerstand bröckelt ...

Riße: Ja, Stück für Stück geben wir auch nach. Und ich halte das auch nicht für einen Fehler. Man hätte die Verschuldung in Irland, in Spanien, in Portugal, in Griechenland viel früher einbremsen müssen. Das haben Axel Weber und Jürgen Stark, die Falken in der EZB, die jetzt zurückgetreten sind, in der Zeit aber nicht getan. Sie haben das alles geschehen lassen. Jetzt laufen sie einfach weg.

Meiner Ansicht nach ist der Rubikon weit überschritten: Die Schulden sind so hoch, dass Inflation dann am Ende wahrscheinlich doch der sozialverträglichste Weg ist, sie wieder loszuwerden. Und Inflation ist die einzige Möglichkeit, dass die Eurozone erhalten bleibt, nämlich dergestalt, dass die Inflation in den nördlichen Ländern höher ist als in den südlichen Ländern, so dass die Wettbewerbsnachteile, die seit der Euroeinführung entstanden sind, wieder ausgeglichen werden.

derStandard.at: Einerseits schwebt über der Währungsunion das Damoklesschwert einer rigiden Sparpolitik mit möglicherweise dramatischen politischen und sozialen Folgen und andererseits jenes der Geldentwertung. Mit anderen Worten: Die Eurozone kann sich zwischen Pest und Cholera entscheiden.

Riße: Der Grat zwischen Inflation, die ich eben bei permanentem Gelddrucken erreiche, indem ich versuche, die Probleme zu lindern, und Deflation, wenn ich versuche, durch Sparpolitik von den Schulden wegzukommen, ist so schmal geworden, dass man nur noch auf der einen oder anderen Seite herunterfallen kann. Auf dem Grat zu wandeln ist nicht mehr möglich, dafür sind die Schulden zu hoch. So hoch, dass sie das Wachstum hemmen. Damit kann man aus der Verschuldung leider nicht mehr herauswachsen.

derStandard.at: Ein Lehrsatz in der Volkswirtschaft lautet: Wer mit der Inflation flirtet, muss sie auch heiraten. Ist es möglich, eine künstlich herbeigeführte Inflation zu steuern oder zu beherrschen?

Riße: Darüber wird viel diskutiert. Fed-Chef Ben Bernanke hat ja einmal gesagt: Zur Not werden wir das Geld mit Helikoptern abwerfen. In einem Papiergeldsystem können Sie viel Geld produzieren und irgendwann einmal in den Wirtschaftskreislauf schleusen. Meine These: Die Inflation entsteht nicht direkt durch das Geld, weil das nicht sofort in den Händen der Konsumenten ist. Die Inflation entsteht durch steigende Rohstoffpreise, aber auch durch steigende Importpreise. Wenn man heute liest: "Nike mit Problemen", weil das Lohnniveau in China steigt, so hat das seine Wirkung.

Was uns die Inflationsraten in den letzten zehn, 15 Jahren der Globalisierung, so lange unten gehalten hat, durch die Verlagerung der Billigproduktion nach China im Besonderen, das läuft jetzt aus. Jetzt bekommen wir plötzlich sogar steigende Importpreise. Wenn wir dadurch Inflationsraten im Bereich von drei bis fünf Prozent bekommen und diese eben nicht durch höhere Zinsen bekämpft werden, dann sind alle Banken reihenweise pleite, die Staaten können den Schuldendienst nicht mehr leisten und viele Privathaushalte würden in den Ländern, in denen es diese große Privatverschuldung aufgrund von Immobilien gab, auch zusammenbrechen.

Wenn ich diese Inflation nicht bekämpfe, dann werden natürlich die Gewerkschaften Lohnausgleich fordern, und über die steigenden Löhne wachsen Sie dann in die nächste Phase der Inflation, nämlich die Lohn-Preis-Spirale hinein. Ganz schnell ist Inflation dann da. Und insofern kann man das schon steuern, indem man steigende Inflation zulässt und die Zinsen dabei unten belässt.

derStandard.at: Auf welches Niveau wird sich der Konsument einstellen müssen?

Riße: Wir laufen erst mal so langsam Richtung drei bis fünf Prozent. Aber über einen Zeitraum von zehn Jahren muss sich der Konsument wohl auf fünf bis zehn Prozent einstellen. Wir brauchen eine Inflation von 6,18 Prozent, damit sich der Geldwert in zehn Jahren halbiert. Damit hätten sich dann prozentual gesehen auch die Schulden halbiert im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt. Dann wäre das Problem gelöst.

derStandard.at: Durch Inflation verflüchtigen sich ja nicht nur Schulden, sondern auch Sparguthaben. Was tun?

Riße: Die Sparer hätten, weil sie ja auch keine Zinsen mehr bekommen, ihr Geld verloren. Deswegen sage ich als Vermögensberater eines: Liebe Anleger, ihr schaut jetzt alle momentan nur darauf, dass ihr das, was ihr einzahlt, wiederbekommt. Das ist aber reine Nominalkapitalsicherheit. Reale Kapitalsicherheit ist das nicht. Und wenn die Inflation zuschlägt, wird euch das alles nichts mehr nützen, diese mündelsicheren Anlagen, diese Minizinsen, die ihr kriegt. Die Botschaft ist: Wer als Anleger in den nächsten Jahren sein Kapital erhalten oder auch vermehren will, der wird gewisse Risiken eingehen müssen. Es gibt keinen risikolosen Zins mehr.

derStandard.at: Nun folgen die Anleger ohnedies schon recht brav wieder dem Herdentrieb und flüchten sich in Sachwerte wie Gold oder Immobilien. Empfiehlt sich das weiterhin?

Riße: Ich bin ja jemand, der Gold seit 2005 empfiehlt. So lange sehe ich das Thema Inflation schon, weil diese überproportionale Geldmengensteigerung schon früher begonnen hat. Man sollte weiterhin mit auf Gold setzen, wiewohl man sich natürlich die Strategie überlegen muss. Aktien sind durchaus auch Sachwerte und Immobilien halte ich auch nicht für falsch. Aber auch da kommt es natürlich ganz stark auf das Objekt an.

derStandard.at: Bleibt noch der arme kleine Sparer, der brav sein Geld für die Pension beiseitegelegt hat. Der hat ja nicht gerade viele Alternativen. Was kann man dem raten?

Riße: Dem würde ich raten, so etwas wie Lebensversicherungen und solche Dinge, die in festverzinsliche Wertpapiere anlegen, aufzulösen und in Sachwerte zu gehen, mit all den Schwankungen, die das beinhaltet. Aber anders geht es nicht: Man muss Risiken eingehen.

derStandard.at: Nun weiß man, dass auch die Erwartung einer Inflation die Anleger zum Beispiel in Rohstoffe treibt. Das heißt wohl, dass wir mit unserem Gespräch den Effekt verstärken?

Riße: Das ist so. Das ist ja auch das Eigentümliche der Finanzmärkte: Sie nehmen alles vorweg. Deswegen sollte der Anleger nicht erst in Sachwerte gehen, wenn in den großen Boulevardzeitungen steht: "Oh Gott, die Inflation, und jetzt lege all dein Geld in Gold an." Dann ist es wahrscheinlich schon zu spät.

derStandard.at: Wann haben denn die Staaten die Schulden Ihrer Einschätzung nach in ausreichendem Maße abgetragen, oder anders gefragt: Wann ist das alles überstanden?

Riße: Der schwierigste Teil der Prognose ist die Frage "Wann kommt die Inflation?". Ich sag jetzt einmal, in drei Jahren sehen wir höhere Inflationsraten. Der größte Unsicherheitsfaktor dabei ist: Wenn sie kommt, dann, glaube ich, wird sie zehn Jahre laufen. Abgeschlossen sehe ich den Prozess in zehn bis 15 Jahren. Dann wird die Wirtschaft über Inflation entschuldet sein. Dann wird irgendwann die Inflation wieder eingedämmt werden können. Dann werden die Notenbanken wieder brutal auf die Bremse treten. Dann wird die Finanzindustrie auf ein Normalmaß zurückschrumpfen und die Wirtschaft wieder in normalen Bahnen laufen. (Regina Bruckner, derStandard.at, 28.3.2012)