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Proteste in Griechenland -  rund um die Krise gab es ziemlich besorgniserregende Entwicklungen

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Margrit Kennedy: "Ich bin weder optimistisch noch pessimistisch. Ich bin possibilistisch. Ich sehe, da ist eine Möglichkeit."

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In "Occupy Money" zeigt Margrit Kennedy mehrere Alternativen auf: Zinsloses, umlaufgesichertes Geld steht dabei im Zentrum.

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Die Krise ist keine Verkettung unglücklicher Umstände. Davon ist Margrit Kennedy überzeugt. Seit 30 Jahren beschäftigt sich die deutsche Kapitalismuskritikerin mit dem vorherrschenden Geld- und Wirtschaftssystem. Genau darin verortet Kennedy auch das Problem: Langfristig kann das nicht funktionieren, Wachstumszwang und Umverteilung vertiefen den Graben zwischen jenen, deren "Geld für sie arbeiten kann", und jenen, die "für ihr Geld arbeiten müssen". Krieg, Crash oder soziale Revolution seien unvermeidlich. Im Gespräch mit derStandard.at erklärt Margrit Kennedy, warum es schwierig ist, Wodka gegen Limonade zu tauschen, welche (bereits funktionierenden) Alternativen es zu unserem Geldsystem gibt und warum das Geld wieder dem Menschen dienen muss und nicht umgekehrt.

derStandard.at: Die jüngste Krise hält uns seit einigen Jahren fest in der Hand: Ausgehend vom US-Hypothekenmarkt krachte erst der Finanzmarkt, dann die Staaten, langsam rücken wieder die Banken ins Zentrum. Ist die Krise einfach Teil des vorherrschenden wirtschaftlichen Systems oder ist sie Ausdruck dessen, dass das System eigentlich nicht funktioniert?

Margrit Kennedy: Das derzeitige Wirtschaftssystem beruht auf einem brüchigen Fundament, einem Geldsystem, das zwei große Fehler hat von insgesamt etwa 30. Wenn man diese zwei Fehler nicht verstanden hat, kann man nicht verstehen, warum das, was im Moment passiert, immer wieder passieren wird, bis wir das Geldsystem ändern.

derStandard.at: Was sind die zwei großen Fehler?

Kennedy: Erstens beruht unser Geldsystem auf dem Prinzip von Zins und Zinseszins. Der weitaus größte Teil unseres Geldes wird dadurch kreiert, dass Schulden gemacht werden, und diese Schulden müssen verzinst werden. Der Zins allein wäre noch nicht so dramatisch. Doch mit Zins auf Zins, also Zinseszins, wachsen Schulden und Guthaben immer exponentiell, und diese Art von Wachstum ist im materiellen Bereich nur begrenzt möglich. Deswegen kann unser herkömmliches Geldsystem nur kurz- und mittelfristig funktionieren, langfristig aber nie. Es gibt drei "historische" Lösungen für dieses Problem: Krieg, Crash oder soziale Revolution. Wenn ich mir ansehe, was im Nahen Osten passiert, dann haben wir dort eine soziale Revolution, den Krieg mit dem Irak haben wir gerade hinter uns, jetzt geht es im Iran möglicherweise weiter.

derStandard.at: Das alles liegt nur in unserem Wirtschaftssystem begründet?

Kennedy: Natürlich ist das Geldsystem nicht der einzige Grund für all das. Aber das exponentielle Wachstum verursacht einen enormen Wachstumszwang. Wenn Sie nicht mindestens den Zins für eine Investition wieder herausbekommen, dann investieren Sie erst gar nicht. Mit anderen Worten: Der Zins, den die Bank verlangt, wird zur untersten Marge für das, was Sie als wirtschaftlich betrachten. Dazu muss noch ein Gewinn kommen, damit man weiter investiert.

derStandard.at: Was ist der zweite Fehler, den Sie angesprochen haben?

Kennedy: Der zweite Fehler ist die Umverteilung. Über den Zins wird ständig Geld umverteilt von 90 Prozent der Bevölkerung zu zehn Prozent, nämlich zu jenen, die "ihr Geld für sich arbeiten lassen" können. Wobei wir natürlich wissen, dass Geld nicht arbeitet, sondern nur Menschen und Maschinen. Das ist eines der kleinen "Nebelbömbchen", die Banken benutzen, um die Menschen davon abzuhalten, wirklich hinter das Phänomen Geld zu gucken.

Fast jeder, der Produkte erzeugt, muss der Bank Zinsen zahlen, die er dann wieder in die Preise weitergibt. Der Zinsanteil in allen Preisen für das, was wir zum Leben brauchen, beträgt durchschnittlich zirka 40 Prozent. Nun könnte man natürlich sagen: Das ist doch ein gerechtes System. Jeder zahlt Zinsen über die Preise, jeder bekommt Zinsen, wenn er spart. Doch wenn man genauer hinsieht, zahlen 90 Prozent dauerhaft über die Preise mehr Zinsen, etwa doppelt so viel, wie sie an Zinsen einnehmen, und zehn Prozent bekommen alles das, was diese 90 Prozent mehr zahlen, zu ihrem Einkommen aus Zinsen hinzu. Diese Summe, die von denen umverteilt wird, die für ihr Geld arbeiten, zu jenen, die ihr Geld für sich arbeiten lassen können, beträgt in Deutschland etwa 600 Millionen Euro pro Tag.

derStandard.at: Kritiker der Zinskritik behaupten, sie sei keine echte ökonomische Kritik und Lösungen würden auch nie angeboten. Haben Sie konkrete Vorschläge, wie unser Geldsystem anders funktionieren könnte?

Kennedy: In meinem neuen Buch "Occupy Money" finden Sie sieben bis acht Beispiele, wie man es anders machen kann. Eines, das seit 1965 in Schweden funktioniert, ist die sogenannte JAK-Bank (Jord (Land) Arbete (Arbeit) Kapital, Anm.). Es ist eine Mitgliedsbank, wo sich die Mitglieder quasi zinslos Kredite geben, dann aber auch zinslos sparen. Außerdem gibt es zahlreiche Komplementärwährungen wie zum Beispiel den WIR-Ring in der Schweiz, der 1934 von kleinen und mittleren Unternehmen gegründet wurde und bis heute funktioniert und etwa 60.000 Mitglieder hat. Diese bezahlen sich gegenseitig mit ihrer zinsfreien Parallel-Währung und regen damit den Umsatz ihrer Unternehmen an. Das hilft besonders in Krisenzeiten und erhöht in jedem Fall die Liquidität der Unternehmen.

derStandard.at: Das sind aber alles eher kleinteilige, regional verankerte Geschichten ...

Kennedy: Nein, das stimmt nicht. Das JAK-System ist ein nationales System in Schweden, das im ganzen Land funktioniert. Auch der WIR-Wirtschaftsring funktioniert national in 15 Regionen in der Schweiz. Wobei er interessanterweise in den deutschsprachigen Teilen der Schweiz wesentlich mehr benutzt wird als in den französischen.

derStandard.at: Aber könnte man damit auch international Geschäfte machen?

Kennedy: Es gibt durchaus Vorschläge für internationale Währungen. Ich beschreibe in meinem Buch eine CO2-Währung, die praktisch jedem Menschen auf der Welt das Anrecht gibt, eine bestimmte für den Planeten verträgliche Menge an CO2 in die Atmosphäre abzugeben. Die Leute, die weniger CO2 abgeben, könnten denen, die mehr abgeben, ihre Anteilsscheine verkaufen. Das kann man durchaus als Geld bezeichnen, weil man das dann auch verwenden kann, zum Beispiel um Energie oder Wasser zu kaufen.

Eine andere Möglichkeit wäre der Terra von Bernard Lietaer, der einem ganz anderen Grundprinzip folgt. Regierungen oder große internationale Unternehmen geben eine Währung heraus, die auf Lieferscheine international handelbarer Waren abgesichert ist. Die Lagerhaltungskosten für die Lieferung werden dabei auf den Geldhalter übertragen. Damit entsteht ein Umlaufimpuls, der völlig anders wirkt als der Zins. Statt einen positiven Anreiz zu schaffen, das Geld zu behalten, um möglicherweise mehr daraus zu machen, steigt mit den Lagerhaltungskosten der Anreiz, das Geld weiterzugeben, um nicht mit diesen Kosten belastet zu werden.

Lietaer hat große internationale Unternehmen wie Daimler-Benz, Siemens, Mitsubishi, Mitsui usw. darauf angesprochen. Diese Firmen beschäftigen riesige Countertrade-Abteilungen, die für den direkten Austausch von Gütern sorgen, um die Unsicherheit von Währungsfluktuationen bei langfristigen Verträgen zu vermeiden. Heute wird circa ein Drittel des gesamten Welthandels über Countertrade (dasselbe wie Barter oder direkter Gütertausch) bewältigt. So wird zum Beispiel Limonadensirup aus den USA gegen Wodka aus Russland getauscht. Bernard Lietaer fand, dies sei ein Rückschritt, weil es natürlich schwierig ist, genau die Menge Wodka zu bestimmen, die den Wert einer bestimmten Menge an Limonadensirup hat. Auch die Leiter der Countertrade-Abteilungen waren sehr angetan von dem Vorschlag, den Terra einzuführen. Doch keiner wollte bei der Einführung der Erste sein.

derStandard.at: Das ist ja auch einer der Gründe dafür, dass es Geld gibt: verschiedene Waren und Dienstleistungen vergleichbar und auch tauschbar zu machen.

Kennedy: Genau. Geld ist eine Vereinbarung, etwas Bestimmtes als Zahlungsmittel zu akzeptieren. Das können Muscheln sein oder Schafe oder Rinder oder Goldmünzen oder Papierscheine oder eben Zahlen in einem Computer. Es erleichtert den Handel seit Jahrtausenden. Ein Problem hatten wir aber noch nie: dass es eben nur ein System auf der Welt gibt, das wirklich anerkannt ist. Einerseits haben wir noch nie so effizient mit Geld gehandelt, in Sekunden können wir Milliardenbeträge um den Erdball jagen. Andererseits haben wir ständig Krisen, die ganze Länder betreffen und diesen Handel lahmlegen können.

In den Jahren zwischen 1970 und 2007 gab es nach den Zahlen des Internationalen Währungsfonds weltweit 124 Bankenkrisen, 326 Währungskrisen und 64 Schuldenkrisen. Letztlich rühren alle – ebenso wie die jetzige Krise – von dem oben genannten Systemfehler her und nicht (nur) von der Unfähigkeit von Bankern oder Politikern. Zum Schluss des sogenannten Aufschuldungsprozesses, der meistens nur ein Land oder eine Gruppe von Ländern betraf, haben noch alle Politiker und Banker immer versucht, den Zusammenbruch so lange wie möglich hinauszuzögern, ähnlich wie heute. Ich war damals in Argentinien, als der Peso zusammengebrochen ist, das war wirklich nicht besonders lustig. So ein Zusammenbruch einer Währung ist das Zweitschlimmste nach einem Krieg, was einem Land passieren kann. Das Neue an der heutigen Krise ist die weltweite Dimension. Einen weltweiten Zusammenbruch gab es noch nie.

derStandard.at: Griechenland hätte also mit einem Austritt aus dem Euro noch Schlimmeres vor sich als jetzt mit den rigiden Sparpaketen, die die Bevölkerung hart treffen?

Kennedy: Es gibt zwei bessere Lösungen für Griechenland. Das eine wäre ein echter Schuldenschnitt, also eine Staatspleite, und danach fängt man von vorne an. Das hat es schon oft genug gegeben. Das noch Bessere wäre ein Vorschlag, der von den Initiatoren, die den Chiemgauer (Regionalwährung, Anm.) eingeführt haben, kommt. Dabei geht es um "Expressgeld" statt Euro-Austritt für Griechenland, eine Komplementärwährung, die an den Euro gebunden wäre. In dem Papier wird ausführlich beschrieben, wie sich das Prinzip der Komplementärwährung auf ganz Griechenland übertragen ließe. Mit der Expresswährung würde nämlich alles geschützt, was innerhalb des Landes produziert wird. Alles, was von draußen kommt, würde um zehn Prozent teurer, alles, was man innerhalb des Landes produzieren kann, um zehn Prozent günstiger werden. Damit könnte die griechische Wirtschaft sich langsam erholen und dann auch irgendwann die Schulden zurückzahlen.

derStandard.at: Das würde wohl nicht von einem Tag auf den anderen gehen?

Kennedy: Die Frage ist, ob die Gläubiger so lange mitmachen und zu überzeugen sind, dass ein solches System funktionieren kann. Dass Resteuropa auf Dauer einen "Pleitestaat" aushält, ist sehr unwahrscheinlich. Alles, was wir jetzt gemacht haben, ist, das Ende so weit wie möglich hinauszögern. Dabei wäre es sinnvoll, sofort zu handeln und etwas grundsätzlich anderes zu machen.

derStandard.at: Warum tut man sich damit so schwer? Muss so eine Veränderung von unten kommen?

Kennedy: Ja, das ist richtig, glaube ich. Politiker können auch nur tun, was die Menschen verstehen. Wenn Frau Merkel morgen sagt: "Das mit dem Zins ist ein Problem. Deswegen reduzieren wir ihn und ersetzen ihn langfristig durch eine andere Umlaufsicherung des Geldes", dann wird sie übermorgen abgewählt, weil das keiner versteht. Das heißt, eine so grundlegende Veränderung muss von einem bestimmten Prozentsatz der Menschen – die Soziologen sagen, fünf bis zehn Prozent reichen aus – in einem Land verstanden werden. Darauf arbeite ich seit 30 Jahren hin und erlebe heute einen phänomenalen Unterschied zu der Zeit vor 2008.

Offensichtlich brauchen wir solche Krisen wie die Lehman-Brothers-Pleite, damit die Leute aufwachen und sagen: "Es muss doch auch anders gehen." Jetzt auf einmal entstehen alle möglichen neuen theoretischen Ansätze, ob das die Postwachstumsökonomie ist oder die Décroissance (Wachstumsrücknahme, Schrumpfung, Anm.), die Gemeinwohlökonomie oder Transition Towns ("Städte im Wandel", Nachhaltigkeit in Städten, Anm.). In all diesen Theorien ist wie selbstverständlich die Idee von Regionalwährungen enthalten. Man muss es eben erst einmal denken können, bevor man es auch machen kann. Ich bin sicher, sie gehört zu den wenigen Lösungen, die wir haben.

derStandard.at: Dennoch sind die ökonomischen Alternativtheorien noch immer Minderheitenprogramme.

Kennedy: Sie haben recht, aber alle sozialen Neuerungen haben klein angefangen. Ich glaube, es sehen inzwischen viel mehr Menschen als noch vor wenigen Jahren, dass wir grundlegende Veränderungen brauchen, und es gibt in der Entwicklung auch Sprünge. Wer hätte in den frühen 1980er Jahren an die Wiedervereinigung geglaubt, an den Fall des Eisernen Vorhangs, daran, dass wir über kleine, handliche Geräte mit Menschen in aller Welt sprechen können?

Es gibt demnächst einen kleinen, nichtöffentlichen Kongress in Berlin, wo sich etwa zehn bis 20 Ökonomen treffen, um einen fundierten Vorschlag für die seit dem 17. Januar 2011 neu einberufene Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages "Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität" zu diskutieren. Mögliche Einflüsse des Geldes und des Finanzsystems spielen in ihren Untersuchungen bisher kaum eine Rolle. Angesichts der täglich neuen Entwicklungen auf den Finanzmärkten gewinnen diese Fragen jedoch zunehmend an Brisanz. Aus den Diskussionen in der Enquête-Kommission und persönlichen Gesprächen mit Bundestagsabgeordneten verschiedener Parteien wissen die Initiatoren dieses Kongresses, dass verantwortliche Politiker dringend auf unabhängige Analysen und unkonventionelle Ideen warten, weil der Mainstream der Wirtschaftswissenschaft nicht ausreichend erklären kann, warum unsere Wirtschaft wachsen muss, um Wohlstand zu erhalten; warum die relative Armut trotz Wirtschaftswachstums steigt und warum es zu Wirtschaftskrisen kommt, sobald die Wachstumsraten fallen.

Ein unzureichendes klares Bild über die Funktionsweise des Kreditgeldsystems ist offenbar auch einer der Gründe, warum sich die zahlreichen Vorschläge für Verbesserungen und Reformen der Geld- und Finanzordnung bislang nicht schlüssig bewerten und einordnen ließen. Die Arbeitsgruppe hat sich mit dem Kongress zum Ziel gesetzt zu analysieren, ob sich Geld so neutral verhält, wie es die Wirtschaftswissenschaft in den meisten ihrer Modelle voraussetzt, oder ob die Konstruktion des Finanzsystems, das Geld selbst wirtschaftliches Wachstum mit antreibt. Inwieweit die Geldarchitektur auf Wachstum angewiesen ist, um ihre eigene Stabilität nicht zu gefährden. Und ob sich der Politik hier neue, bisher übersehene Gestaltungsspielräume eröffnen, um das Wachstumsparadigma zu überwinden.

derStandard.at: Sind Sie also optimistisch, dass sich etwas verändern wird?

Kennedy: Ich bin weder optimistisch noch pessimistisch. Ich bin possibilistisch. Ich sehe, da ist eine Möglichkeit. Und wenn wir genügend Menschen sind, die diese Möglichkeit ergreifen, dann kann sich etwas ändern. Wenn wir nicht genügend sind, dann wird sich nichts ändern. Dann werden wir wieder und wieder durch Crash, Krieg oder soziale Revolution durchgehen müssen. Ich finde, es ist an der Zeit, dass wir das Geldsystem und seine Auswirkungen genauer unter die Lupe nehmen und Alternativen erproben. (Daniela Rom, derStandard.at, 27.3.2012)