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Patientenanwalt Gerald Bachinger geht von 2.500 bis 3.000 Toten im Jahr infolge eines Behandlungsfehlers aus.

Foto: APA/Friso Gentsch

Der falsche Fuß amputiert, ein Tupfer bei der OP im Bauch vergessen, ein Irrtum bei der Diagnose, ein ungeeignetes Medikament: Behandlungsfehler sind ein weites Feld mit meist weitreichenden Konsequenzen. Für die betroffenen Patienten, für die behandelnden Ärzte und oft auch für das gesamte Gesundheitssystem.

An die österreichischen Patientenanwaltschaften sind 2010 9.384 Fälle von vermutlichen Behandlungsfehlern herangetragen worden. Das entspricht einem leichten Rückgang gegenüber 2009, als 9.561 Geschäftsfälle verzeichnet wurden. Im Vergleich dazu wirkt die Schlichtungsstelle der Wiener Ärztekammer geradezu unterbeschäftigt. Dort sind 2011 laut Wahrnehmungsbericht 43 Anträge von Patienten eingelangt, die die Einleitung eines Verfahrens vor der Schiedsstelle der Ärztekammer forderten, "um potenzielle Schadenersatzansprüche gegen Ärztinnen und Ärzte (...) im außergerichtlichen Weg geltend zu machen".

Im Zusammenhang mit Behandlungsfehlern sind Zahlen allerdings mit Vorsicht zu genießen, warnt Patientenanwalt Gerald Bachinger. "Die Zahlen, die bei Patientenanwaltschaften und Schlichtungsstellen anfallen, sind nicht automatisch Behandlungsfehler. Etwa 20 Prozent bleiben als definitive Behandlungsfehler übrig", schätzt er. Das bedeutet, durch die Patientenanwaltschaften kommen jährlich etwa 2.000 tatsächliche Fälle ans Licht. 

Die Wiener Ärztekammer hat im Jahr 2011 nach eigenen Angaben 14 Beschwerden abschließend behandelt. Im Ergebnis wurde in nur vier Fällen befunden, dass tatsächlich ein Behandlungsfehler vorlag. In den restlichen zehn Fällen wurden die Anträge abgelehnt.

Aufregerzahl 

Nur ein kleiner Teil der Wahrheit landet jedoch bei Gerichten, Schlichtungsstellen und Patientenanwaltschaften. Unabhängig vom Ausgang der Fälle bezeichnet Bachinger deren Statistiken nur "als Spitze des Eisbergs": "Die meisten Fälle bleiben unerkannt, weil die meisten Patienten erst aktiv werden, wenn sie das Vertrauen in die Ärzte verloren haben. Vieles geht als Komplikation durch. Die Zahlen sind mindestens mit Faktor 30 zu multiplizieren, um an die wahre Ziffer von Behandlungsfehlern heranzukommen." 

An der Salzburger Paracelsus-Universität beschäftigen sich Forscher in einem europaweiten Projekt mit Behandlungsfehlern durch niedergelassene Ärzte. Für Großbritannien haben sie errechnet, dass bei Hausärzten im ganzen Land täglich zwischen 37 und 600 Fehler in den Bereichen Diagnose, Verschreibung, Administration und Kommunikation passieren. "Obwohl das Potenzial für Fehler groß ist, hat unsere Analyse medizinrechtlicher Datenbanken ergeben, dass 50 Prozent ohne Folge bleiben", steht auf der Homepage des Projekts Linneaus.

"Die Aufregerzahl sind die Todesfälle aufgrund von Behandlungsfehlern. In Deutschland belaufen sich die auf 17.500 pro Jahr. Umgelegt auf Österreich bedeutet das 2.500 bis 3.000 Tote im Jahr, und das ist wissenschaftliche Evidenz", so Bachinger. Der Patientenanwalt weiß, dass gesicherte Zahlen aus Österreich schwer zu finden sind. "Wir arbeiten mit einer Metastudie des deutschen Aktionsbündnisses für Patientensicherheit, die sich auf Österreich umlegen lässt. Das ist wissenschaftliche Evidenz, die wir gerne auch für Österreich hätten."

Hilfe für die Opfer

Behandlungsfehler müssen grundsätzlich vom Patienten bewiesen werden. Die einzige Ausnahme tritt beim groben Behandlungsfehler ein, bei dem der Arzt seine Unschuld nachweisen muss (siehe Kasten unten). Unterstützung bekommen Opfer von Behandlungsfehlern in Österreich zum Beispiel von den Patientenanwaltschaften oder über die Schiedsstellen der Ärztekammern. In erster Linie wird festgestellt, ob es sich bei dem Vorwurf des Patienten tatsächlich um einen Behandlungsfehler handelt. 

Für Ärzte und Spitäler wird über Patientensicherheit und Risikomanagement gegengesteuert. Das wichtigste Anliegen dabei ist es, Fehler zu vermeiden und eine Art Frühwarnsystem zu schaffen. Mit der Eingrenzung von Risiken beschäftigen sich wissenschaftliche Forschungsgruppen ebenso wie die Manager von Gesundheitseinrichtungen. Viele Spitäler in Österreich verfügen über Risikomanagement-Systeme. 

Checklisten für Ärzte

Patientenanwalt Gerald Bachinger verfolgt neue Strategien und Ansätze bei der Patientensicherheit in Spitälern. "Aktuell geht der Fokus weg von der Einzelperson Arzt oder Patient hin zu Strukturen und Systemen, die sicherer gemacht werden", sagt er. Wie die Luftfahrt, die Atomkraft und Chemieunternehmen sollte auch die Medizin als sensibler Bereich zum Beispiel mit Checklisten arbeiten. "In Standardprozessen und Routinen können so Fehler vermieden werden. Wie ein Pilot vor dem Start geht der Arzt vor der Operation eine Checkliste durch." 

Instrumente zur Fehlervermeidung für niedergelassene Ärzte werden derzeit an der Salzburger Paracelsus-Universität entwickelt. Ein Ziel ist es, unter den Medizinern ein Sicherheitsbewusstsein zu schaffen und potenzielle Gefahrenstellen aus den Abläufen in Arztpraxen zu eliminieren. "Wir erforschen Medikationsfehler bei niedergelassenen Ärzten, die Kollegen in Deutschland haben sich auf Fehlermeldesysteme konzentriert und Forscher in Großbritannien haben diagnostische Fehler als Fokus", erklärt Miriam Lainer von der Paracelsus-Universität.

Hinter allem steckt die Idee, im internationalen Netzwerk voneinander zu lernen und die Erkenntnisse für den Hausgebrauch der Ärzte aufzubereiten. Um Schuldzuweisungen geht es dabei nicht, sondern darum, Ereignisse darzustellen und Ärzten individuelle Verbesserungsmöglichkeiten anzubieten. "Der Patient darf ruhig mitarbeiten und sich seiner Rolle bewusst sein", ergänzt Lainer.

Kampf gegen Fehlmedikation

Die Forscher erarbeiten derzeit eine Klassifizierung von Medikamentenereignissen, um Hausärzten ein Tool bereitzustellen, das hilft, Zwischenfällen auf den Grund zu gehen und für vermehrte Sicherheit im Umgang mit Medikamenten zu sorgen.

Viele Medikationsfehler entstehen nämlich aus dem mangelnden Austausch zwischen Arzt und Patient. Zwar ist der Hausarzt die erste Anlaufstelle für den Patienten, die einzige ist er aber nicht. "Zu dem Medikationsmix tragen vielleicht noch ein Facharzt, ein Spital und ein Pharmazeut bei, die alle nichts voneinander wissen - und damit ist einer der Knackpunkte die fehlende Vernetzung zwischen den Akteuren", so Lainer.

Eine Untersuchung der Salzburger Landeskliniken hat ergeben, dass 65 Prozent der Studienteilnehmer gefährliche Interaktionen zwischen verschiedenen Medikamenten zu erwarten hatten und 35 Prozent unnötige Arzneimittel verordnet bekamen. Das Ziel des Linneaus-Projekts lässt sich insgesamt auf alle Bemühungen zur Patientensicherheit anwenden. "Es geht darum, unter den Medizinern ein Sicherheitsbewusstsein zu schaffen und potenzielle Gefahrenstellen aus den Abläufen zu eliminieren", fasst Miriam Lainer zusammen. (Gabriela Poller-Hartig, derStandard.at, 4.7.2012)