Wien - Dass man bei einem Rockkonzert, entfesselt von der Verheißung des Nichtalltäglichen, ohne langen Vorlauf Menschen kennenlernt, mit denen man gleich anschließend schöne, starke Babys machen spielt, zählt zur Folklore der Popkultur. Allein deshalb strömen die Menschen in die Mehrzweckhallen dieser Welt. Musik, gewitzte Harmonien und Akkordfolgen, Reimzwang, atemberaubende Arrangements, echter Schweiß auf echten Gitarren, elektrische Energie, der Schrei nach Freiheit und das Gellen der Rebellen, das ist alles Ornament.
Pop handelt davon, dass man einander bitte schnell und unkompliziert näherkommt. Die Taktik mag zwischen balladeskem Mitleidsgeheische und breitbeinigen Gebietsmarkierungen differieren, letztlich aber führen alle Wege nach Rom. Um die Worte von Deichkind zu verwenden: Das ist " leider geil".
Musik gilt paradoxerweise gerade auch bei Konzerten spätestens seit der Erfindung von elektrischen Gegenständen mit dem Buchstaben "i" vorn dran nicht länger als Transportmittel, sondern als kleinster gemeinsamer Nenner. Man ist da, um mit seiner Kaufkraft Zeugnis von einer anderen Stärke abzulegen.
Hier im Saal stehen nur die Besten ihrer Generation und verschütten sanft Freizeitgetränke ("99 Bierkanister!") und hormonelle Botenstoffe ("Bück dich, mail dich, schleim dich hoch!"). Höflichkeitshalber sollte man sich übrigens vorher auch verbal kurz austauschen. Weil dauernd Krach auf der Bühne gemacht wird, empfehlen sich dafür appellative Binsenweisheiten oder ins Ohr gebrüllte Schlüsse aus der bisherigen Autobiografie: Geiz ist geil. Arbeit nervt. Schau in die Krone. Witzigkeit kennt keine Grenzen. Witzigkeit kennt kein Pardon. Aufstand im Schlaraffenland. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Roll das Fass rein. Raunz nicht, kauf. Hör auf zu denken, schalt dein Gehirn aus, follow your instincts - leider geil.
Böllern aus der Datenbank
Die gegenwärtig die Welt der unter 30-jährigen Independent-Pop-Studenten, Stampf-Techno-Azubis und Alternative-Rock-Praktikantinnen mit ihren Mittelklassenkampfliedern für ein Grundeinkommen, ohne jeden Tag zur Arbeit gehen zu müssen, regierende Hamburger Band Deichkind lässt es in der Stadthalle konsequent aus der Datenbank böllern. Wenn man das vor der Tournee zu Hause ordentlich macht, braucht man später nicht jeden Abend neu daran herumwerken. Ja, in jedem Beruf gibt es auch Sachen, die man nicht so gerne macht.
Es setzt also zünftige vorgefertigte Heimwerker-Hammer-Beats aus der Schule der guten alten britischen Raveszene der frühen 1990er-Jahre, etwa Leftfields Open Up oder Underworlds Born Slippy. An denen gibt es nichts zu deuteln. Die Botschaft lautet: Krawall und Remmidemmi.
Man setzt also mit grobianischer Entschlossenheit auf eine Verständigung der seit gut 20 Jahren friedlich-wurschtig nebeneinander wohnenden Glaubensrichtungen HipHop, Techno und Rock. Dazu setzen Deichkind mit aus Aluplast-Wärmedecken aus dem Verbandskasten im Auto genähten Weltraumkostümen und blinkenden Pyramidenhelmen auf ein burschikoses Tanztheater, das Aerobic, Rentnerrollatoren und fahrbare Tennisschiedsrichterhochsitze mit lustigen Monsterfratzen, Hosen aus Müllsäcken und echten Bierbäuchen kombiniert. Ein aus zwei Männern bestehendes Eseltier trappelt über die Bühne. Ein Tandem klingelingelingt in die Gegenrichtung. Es wird Skateboard gefahren. Ein falsches Skelett zeigt echten Bierbauch. Nun werden die Bierbäuche vom Mantel des Schweigens befreit. Mit einem Schlauchboot und später mit einem vier Meter hohen Bierfass stechen Deichkind in die aus den Händen des Publikums bestehende See. Wie gesagt: Roll das Fass rein.
Am Ende singt ein Witwentröster aus dem Lande Howard Carpendale und Chris Roberts die Ballade The Power of Love von Frankie Goes To Hollywood, während die lustigen Leute von der post-postmodernen Waterkant mit Gartenschläuchen Bier ins Publikum spritzen. Das Publikum tobt vor Begeisterung.
Ein schrecklicher Gedanke taucht auf. Was, wenn der Direktor der Burg oder einer ähnlichen Einrichtung entdeckt, dass es Deichkind gibt? Wird sich das Regietheater diese langzeitpubertierenden Burschen einverleiben und ihnen die Hörner stutzen? Eventuell gar nicht mal so geil. (Christian Schachinger, DER STANDARD, 23.3.2012)