36 Millionen E-Mails in zehn Sekunden, und manchmal hat man das Gefühl, alle landen im eigenen Postfach. Die digitale Kommunikation hat jene von Angesicht zu Angesicht überholt, wie Garys Social Media Count zeigt. Über Begleiterscheinungen und Folgen werden wir uns langsam klar.

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"Wissen, was dort passiert": Friedrich Krotz.

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Wie verändern sich soziale Beziehungen als Folge von Medien? Wie agieren wir in einer Welt, die zunehmend durch digitale Kommunikation geprägt wird? Als "Mediatisierung" wird dieser Prozess bezeichnet. Er kann sich in der Art manifestieren, wie sich Jugendliche heute auf dem Laufenden halten, über ihre Freunde oder über die Welt; wie der Online-Kartentisch das Pokerspiel beeinflusst; oder wie Migranten mit dem Internet umgehen.

"Mediatisierte Welten" ist der Titel eines von der Deutschen Forschungsgesellschaft geförderten Schwerpunktprogramms, das der Kommunikationswissenschafter Friedrich Krotz an der Uni Bremen leitet. Am vergangenen Montag trug er in Wien aus den laufenden Forschungen vor. Der Vortrag fand im Rahmen der Hedy-Lamarr-Lectures statt, die die Österreichische Akademie der Wissenschaften gemeinsam mit der Telekom Austria und dem Medienhaus Wien veranstaltet.

Furcht vor den Medien sei Sokrates

Zunächst unterzog Krotz unser Verhältnis zu Medien einer historischen Analyse. "Furcht vor den Medien gibt es seit Sokrates", der nicht wollte, dass mündliche Diskussionen niedergeschrieben werden. Als Jahrhunderte später immer mehr Menschen lasen, taten sie es laut, und sie mussten völlig unstrukturierte Textlängen entziffern. Erst allmählich gewöhnten sich die Hersteller an den Wunsch nach Absätzen, Kapitelüberschriften und derlei. Und erst dann kam die neue Technik in Form von Gutenbergs Buchdruck. Auch die Bildsprache veränderte sich mit den technischen und sozialen Möglichkeiten, ihr Symbolgehalt wandelte sich - so wurde die Bedeutung einer dargestellten Person ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr durch übertriebene Körpergröße signalisiert.

Mit dem kurzen historischen Exkurs wollte Krotz belegen, "dass Medien schon immer gestört haben", dass sie neue Verhaltensmuster hervorbrachten und von diesen beeinflusst wurden. Auch heute behandeln wir traditionelle "Einweg"-Medien unterschiedlich je nach kultureller, politischer und sozialer Umgebung; so ist Fernsehen in einem von Kanälen überschwemmten Haushalt etwas sehr anderes als in einem Land mit staatlich kontrollierter Nachrichtenpolitik, und wir lernen, die Bilder ganz anders zu "lesen".

Wirkliche und virtuelle Welt

Das Hauptaugenmerk richtete der Kommunikationswissenschafter nun auf den Grad der Beeinflussung, den die gegenwärtige Mediatisierung ausübt. Er unterschied die Produktion und Rezeption standardisierter Kommunikate (Buch, Zeitung, Radio etc.), interpersonelle Medien (Telefon, SMS, Chat etc.) und interaktive Kommunikation (Computerspiele oder Roboterhunde). Der für Krotz wesentliche Punkt ist, dass wir diese Formen und den direkten Austausch mit andern nicht getrennt wahrnehmen, also nicht eine virtuelle neben einer "wirklichen" Welt haben, sondern dass wir aus beiden unsere soziale Welt konstruieren.

Dieser Befund ist Krotz vertraut. Er hat Soziologie studiert, nachdem er ein Mathematikstudium abgeschlossen hatte. Die Kombination hat ihn aber nicht zum statistisch argumentierenden Sozialwissenschafter geformt, er untermauerte seinen Vortrag auch nicht mit Zahlen. Vielmehr verwies er auf den Soziologen George Herbert Mead, dem zufolge wir durch soziale Beziehungen uns selbst definieren. Wie diese entstehen, ist allerdings seit Meads Zeiten komplizierter geworden.Beziehungen differenzieren sich immer mehr aus, so eine der Thesen von Krotz. Ein Gespräch unter Freunden im Wirtshaus ist etwas anderes als derselbe Gesprächsinhalt in Facebook, nicht nur weil räumliche Nähe fehlt, sondern auch weil Facebook einen eigenen Rahmen vorgibt.

Schaden in 20 Jahren

"Facebook verdient an unseren Netzen", sagt Krotz, es werte sie aus und verkaufe unsere Daten. Es sei naiv, anzunehmen, dass wir ohne Medien das Gleiche tun wie mit ihnen. Die digitalen Netzwerke würden zudem die Reorganisation sozialer Beziehungen betreiben. Wir hätten uns zum Beispiel als "Freunde" zu definieren, auch wenn wir es gar nicht seien. Wir könnten etwas "gut finden", aber "der Daumen darf nie nach unten gehen".

Die Konsequenzen für unser kommunikatives Verhalten gehen noch weiter. Man müsse heute seinen Kindern sagen, sie mögen nichts ins Netz stellen, was ihnen vielleicht in 20 Jahren bei einem Personalchef schaden wird. " Aber wer will schon Kinder haben, die als Zwölfjährige darüber nachdenken müssen, was irgendwann einmal problematisch sein könnte?" Der kommerzielle Rahmen, so meinte Krotz, bedeutet unter anderem auch, dass man auf seinem iPad nur die Musik anhören könne, die man vorher in Apples iTunes Store gekauft habe.

Warnung und Entwarnung

Da allerdings wurde seine Kritik unscharf. Bisher kann man nämlich jede CD und Sonstiges, das man in iTunes speichert, über seinen Tablet abspielen. Insgesamt warnte Krotz in seinem Vortrag vor den Folgen der Mediatisierung und gab zugleich teilweise Entwarnung. Er zitierte Colin Crouchs "Postdemokratie" und zeigte die Begleiterscheinungen einer intransparenten Politik auf (wobei ein zwingender Zusammenhang mit der Digitalisierung unklar blieb): "Deutschland sinkt mit seinem Korruptionsindex ab. Ich weiß nicht, wie das in Österreich ist." Gelächter im Publikum.

Andererseits, sagte Krotz, wolle er nicht pessimistisch sein. Er hoffe auf die Kraft der Zivilgesellschaft, trotz der medialen und ökonomischen Zwänge, die als Begleiterscheinung auch noch Vereinzelung zeitigen würden: "Wer kennt denn noch seine Nachbarn?" Wie sehr nutzt Krotz selber die digitalen Medien, die er kritisch behandelt? "Ich benutze das iPad intensiv und schlage ständig etwas darin nach", sagte er im Interview. "Ich lese E-Books und bin in Facebook, habe aber keine Freunde. In Twitter bin ich auch, aber nur um zu wissen, was dort passiert. Sonst verzettelt man sich." (Michael Freund, DER STANDARD, 21.3.2012)