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Wirtschaftserklärer Gilgamesch (li.) und Enkidu in der Inszenierung von Raoul Schrott, aufgeführt 2002 am Wiener Akademietheater.

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"Die Ökonomie von Gut und Böse" von Tomáš Sedláček ist im Hanser Verlag erschienen. Es kostet in Österreich 25,90 Euro.

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Um zu verstehen, dass wir unser heutiges Wirtschaftssystem wieder ändern müssen, begibt sich der tschechische Ökonom Tomáš Sedláček auf eine Reise durch 4.000 Jahre Menschheitsgeschichte. Anhand des uralten Gilgamesch-Epos und der Schriften des Alten Testaments zeigt der Autor, wie nah und fern zugleich das Heute vom Gestern ist.

Die jahrtausendealten Werke fördern unter der Lupe des Tschechen Erkenntnisreiches hervor. Sie zeigen, wie prägend Geschichten sind. Diese machen das Leben wie die geistige Verfassung einer Nation erst bedeutsam. Die heutige Ökonomie sei eine Art des Geschichtenerzählens, deren Zeit abgelaufen sei, ist Sedláček überzeugt.

Was uns AAA sagen kann

Wenn man das Leben als Geschichtenerzählen versteht, dann ist die Sprache naturgemäß von Bedeutung. Für den tschechischen Ökonomen ist die Mathematik aber nur eine Form, um wirtschaftliche Zusammenhänge erfassen zu können. Die Namensgebung sei ungleich wichtiger, wie die jüdische Lehre, konkret das erste Buch Mose, zeige. Ohne sie existiere die Realität nicht, sie werde zusammen mit der Sprache erst erschaffen. "An etwas, für das es in unserem Kopf kein repräsentatives Symbol gibt, können wir gar nicht denken", verweist Sedláček auf den österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein.

Das Ganze klingt außerordentlich aktuell in Zeiten von Triple-A (AAA), Kreditausfallversicherungen (CDS) und hypothekenbesicherten Wertpapieren (MBS). Rufen wir uns in Erinnerung, die Schlagzeile "Ratingagentur nimmt Österreich Triple-A weg" bekommt allein durch das symbolhafte AAA überhöhte Bedeutung. Sedláček kritisiert das auch gar nicht, verweist aber auf die menschliche Verantwortung bei der Namensgebung. Man kann ein Glas halb voll oder halb leer sehen.

Illusion der Kontrolle

Alles beginnt mit Gilgamesch. In diesem über 4.000 Jahre alten Epos wird die Illusion beschworen, alles kontrollieren, alles rational beschreiben zu können. Der sumerische König und Halbgott Gilgamesch will über der Natur stehen. Im Sinne der Zivilisationsgeschichte misst er sich daran, ob er "um sich herum eine konstante Umgebung schaffen kann", so Sedláček. Die Stadt will der König mit einer gigantischen Mauer schützen, sich so im wahrsten Sinne des Wortes unsterblich machen.

Die städtische Arbeitsteilung geht bei ihm mit Knechtschaft konform. Er sieht seine Untergebenen als beliebig einsetzbaren Faktor in seiner Unsterblichkeitsgleichung an. Als er im nicht sesshaften "Wilden" Enkidu einen Freund fürs Leben findet, ändert sich seine Einstellung. Er will den Menschen dienen und teilt mit seinen Untertanen eine wichtige Erkenntnis: Bist du nicht mehr von der Natur abhängig, dann von deinen Mitmenschen. Unsterblichkeit, der Sieg über die Natur, weicht ewigem Ruhm in Form der Geschichtsschreibung.

Das Judentum gibt dem Materiellen Sinn

Völlig konträr geht es das Alte Testament an. Die Natur, das nicht sesshafte Leben werden idealisiert. Der Bauer Kain erschlägt den Hirtennomaden Abel, der Jäger Esau wird von seinem sesshaften Bruder Jakob betrogen. Die Stadt war zunächst Symbol für Sünde und Dekadenz – exemplarisch dargestellt im später von Gott zerstörten Babylon. Aber auch wenn Natürlichkeit einen hohen Stellenwert hat, förderte das alttestamentarische Sich-die-Erde-Untertan-Machen materiellen Reichtum für den Einzelnen.

Den endgültigen Drive, den das Judentum der antiken Wirtschaftswelt gab, so Sedláček, war aber ihr Zeitbegriff. Anders als die Sumerer interessierten sich die Hebräer fürs Übermorgen und maßen ihre Errungenschaften an der Vergangenheit. Erst dann mache es Sinn "Bereiche zu erforschen, wo die Früchte erst in der nächsten Generation reifen". Die Idee des Fortschrittes war geboren.

Zurück zum Ursprung

Sedláček jedenfalls setzt seine Tour durch die "Kathedrale von Denkgerüsten" auf insgesamt 400 Seiten fort. Den Griechen und frühen Christen folgen im Mittelalter ein Thomas von Aquin, später in der Neuzeit dann Utilitaristen wie John Stuart Mill, seines Zeichens Mitbegründer der klassischen Ökonomie, oder die heutigen "Mainstream-Ökonomen" wie Paul Samuelson.

Interessant ist dabei, wie der Autor versucht, diese einzelnen Strömungen systematisch zu verorten. Er tut das, indem er die Bedeutung des gemeinwohlorientierten Denkens zum Maßstab macht. So legt er die alttestamentarischen Schriften wirtschaftsliberaler als die neutestamentarischen Werke aus. Gleichwohl sind für ihn Judentum und Christentum weit weg vom primär eigennützigen Homo Oeconomicus, heutzutage von den gängigsten Ökonomen postuliert, oder gar von einem Bernard Mandeville, der das private Laster als eigentliche Quelle des Gemeinwohls sah.

So zeigt zum Beispiel die neutestamentarische Bergpredigt, wie weit sich Finanzwelt und jüdisch-christlicher Glaube voneinander entfernt haben. Während Goldman-Sachs-Banker Lloyd Blankfein, selbst Jude, in seiner Arbeit "Gottes Werk" sieht, erteilt Jesus dem "Mammon" eine Absage. Und weiter: "Schwört überhaupt nicht, weder beim Himmel, denn er ist Gottes Thron, noch bei der Erde, denn sie ist der Schemel für seine Füße." Diese Bescheidenheit ist vielen Bankern fremd.

Gut und Böse

Mit auf die Reise, die nichts für Schnellleser ist, gibt uns Sedláček den Rat, zufriedener mit dem Erreichten zu sein. Alles andere wäre ein Warten auf Godot. Was sich aber nicht ändere, sei die Aufgabe seiner Zunft: "Die Menschen haben von den Ökonomen schon immer vor allem wissen wollen, was gut und was böse oder schlecht ist, und das ist bis heute so geblieben", ist sich der Tscheche sicher. Es ist an der Zeit, dass auch seine Kollegen von Harvard bis Singapur auf den Zug aufspringen. Und bessere Geschichten erzählen. (sos, derStandard.at, 21.3.2012)