Georg Wögerbauer kennt die Gesundheitsprobleme der so genannten "High Potentials" genauso wie jene der erfahrenen Führungskräfte.

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Chronische Überlastung im Arbeitsalltag und im Privatleben führt zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlafstörungen, Tinnitus und unterschiedlichsten Formen von Erschöpfungsdepression. DER STANDARD Mentoring Circle lud vor kurzem zum Workshop mit Arzt, Psychotherapeut und Coach Georg Wögerbauer. Generell ortet Wögerbauer fehlende Wertschätzung von Führungskräften gegenüber sich selbst und ihren Mitarbeitern und rät zum freundlichen Blick in den Spiegel.

derStandard.at: Sie sind Allgemeinmediziner und Psychotherapeut: Haben sich die Anliegen der Menschen, die stressbedingt zu Ihnen kommen, in den vergangenen Jahren geändert?

Wögerbauer: Für mich haben sich nicht die Anliegen geändert aber die Intensität. Die Häufigkeit stressbedingter Erkrankungen hat nach meiner Wahrnehmung in den letzten 20 Jahren zugenommen. Auch kommen immer mehr junge Menschen, die mit chronisch krankmachenden Stress-Situationen nicht mehr zurecht kommen in die ärztlich-therapeutische Praxis. Die Menschen sind zwar immer besser durchuntersucht und haben immer mehr Befunde gesammelt, aber deswegen leben sie nicht nachhaltig gesünder.

derStandard.at: Der Körper lügt angeblich nie - mit welchen Symptomen kommen Menschen, die mitten im Berufsleben stehen, zu Ihnen?

Wögerbauer: Panikattacken, Intoleranzen, Sucht-Entwicklungen, Beziehungskrisen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Schlafstörungen, Tinnitus und unterschiedlichste Formen von Erschöpfungsdepression sind die Antwort darauf, dass sich viele Menschen chronisch überlastet und überfordert fühlen und vielfach mit ihren Beschwerdebildern alleine sind, weil gesellschaftliche und soziale Regulationsmechanismen versagen.

Häufig kommen Menschen mit dicken Befundmappen zu mir: von der Histaminaustestung über Knochendichtemessung bis zur Coloskopie sind sie schulmedizinisch 120-prozentig bedient worden, fühlen sich aber dennoch unzufrieden und krank. Viele leiden darunter, dass sie ihr Leben nicht mehr aktiv gestalten können, sondern sich vielfach gesteuert fühlen, privat kaum mehr abschalten können, ihre Hobbys vernachlässigen, sie beklagen eine kleiner werdenden Freundeskreis und oft auch fehlende Wertschätzung am Arbeitsplatz für ihre Tätigkeiten, für das was sie einbringen, für das was gelingt. Ich denke dass die mangelnde Feedback-Kultur eine der größten Fehler ist von Führungskräften.

derStandard.at: Woran liegt dieser Mangel?

Wögerbauer: Das hat meist damit zu tun, dass Führungskräfte oft selbst Probleme haben, mit sich selbst wertschätzend umzugehen, was sich natürlich auf die von ihnen geführten Menschen auswirkt. Ich nenne das die Fähigkeit zum liebevollen Spiegelbild in der Früh unmittelbar nach dem Aufwachen. Führungskräfte beklagen oft, dass erreichte Ziele nicht gefeiert werden. Kaum ist ein Ziel erreicht, liegen drei neue Zielvorgaben am Schreibtisch. Die Menschen verlieren dann zunehmend die Motivation, auch die Freude an der Arbeit und beschreiben und erleben sich wie den typischen Hamster im Laufrad, auch mit dem Unvermögen, eine sinnvoll Exit-Strategie für sich zu entwickeln. Wenn dieser berufliche Druck dann noch entsprechend durch Suchtverhalten und/oder Beziehungsprobleme potenziert wird, kann es dann früher oder später zu den oben beschriebenen Erschöpfungssymptomen bis hin zur manifesten Depression mit allen möglichen Somatisierungen kommen.

derStandard.at: Sie geben auch Workshops für Führungskräfte. Wie unterscheiden sich die Stresssituationen jüngerer im Vergleich zu jenen erfahrenerer Führungskräfte?

Wögerbauer: Bei jungen Führungskräften stehen Verhaltensauffälligkeiten im Zusammenhang mit chronischen Distress-Situationen im Vordergrund: Aggressivität, Suchtverhalten, Beziehungsprobleme, Libidoverlust, chronische Gastritis, soziale Isolation, Bewegungsmangel, fehlende Freizeitkultur. Junge Führungskräfte sogenannte "High Potentials" werden von ihren Führungskräften sehr wohl gefördert, aber auch nachträglich gepusht. Vielfach wird eine Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit über Black Berrys gefordert. Die gesamte Lebenssituation dieser Menschen, die meist in der Phase der Familiengründung, des Hausbaus sind, Kreditverpflichtungen eingehen und das bei Arbeitszeiten von 50 bis 60 Stunden pro Woche, wird aber meist nicht gesehen.

Bei den sogenannten erfahreneren, älteren Führungskräften kommen zu den Verhaltenssymptomen zunehmend körperliche Symptome dazu: Schlafstörungen, Übergewicht, Reizdarmsymptomatik, wieder Suchtverhalten und Bewegungsmangel, Ernährungsfehler, Hypertonie, Herz-Krankheit und anhaltende Wirbelsäulenbeschwerden aufgrund chronischer Verspannungsmuster und Bewegungsmangel.

derStandard.at: Und wie unterscheiden sich auch die Strategien damit umzugehen?

Wögerbauer: Sowohl bei den jungen als auch bei den erfahreneren Führungskräften geht es um eine Lebensstil-Modifikation. Vielfach ist es notwendig, chronisch Gestresste für einige Zeit aus ihrer Alltagsbelastung herauszunehmen, damit sie sich, ihren Körper, ihre Bedürfnisse und ihr soziales Umfeld wieder wahrnehmen können. Ausgehend von dieser Standort-Bestimmung kann dann schrittweise eine Neugestaltung des Lebens versucht werden, mit der Fragestellung: Was sind meine Prioritäten in der persönlichen Lebensgestaltung für mich, für meine Beziehungen und für meinen beruflichen Weg?

Bei älteren Führungskräften sind dann naturgemäß schon oft ärztliche und medikamentöse Interventionen erforderlich, wobei ich der Meinung bin, dass aktuell die jungen Führungskräfte derzeit wesentlich mehr unter Druck stehen als die älteren, die sich vielfach schon ihre Sicherheiten und Positionen geschaffen und abgesichert haben.

derStandard.at: Wie merkt man rechtzeitig, wann die Grenze vom guten zum schlechten Stress überschritten wird? Gibt es Signale?

Wögerbauer: Der Eu-Stress oder gute Stress ist spürbar, wenn ich begeistert gestalten kann, wenn ich Visionen habe, Ziele habe, erreichte Ziele auch feiern kann, wenn es möglich mit ganzer Aufmerksamkeit an einer herausfordernden aber auch bewältigbaren Aufgabe zu arbeiten. Eu-Stress hat mit Begeisterung zu tun, mit Kooperation, mit Teamworking, mit Lernen und Nutzen der persönlichen Fähigkeiten. Ich sage immer, der Körper ist unser bester Coach und verfügt über eine Fülle von Warnsignalen, wann wir von der befriedigenden, erfüllenden Arbeit in die Situation der Fremdbestimmtheit, des Gejagtseins und Erschöpftseins kippen. Ab einer gewissen Intensität von Überlastung verlieren wir jedoch das Sensorium, die Fähigkeit, diese Warnsignale wahrzunehmen, vor allem sie auch anzunehmen. Da ist der Arbeitssüchtige nicht weit vom Alkoholsüchtigen, der ja auch konsequent die eigene Sucht und Suchtgefährdung verleugnet, weil er es auch nicht mehr wahrnehmen kann. Von großer Bedeutung sind da Angehörige, der Partner/die Partnerin, die mit sehr klaren und unübersehbaren Zeichen dem Arbeitskranken entsprechende Stopps vor die Füße legen.

derStandard.at: Gibt es bestimmte Rituale, die helfen aus der Stressspirale heraus zu kommen?

Wögerbauer: Ich denke Rituale sind eher notwendig, um erst gar nicht in die Stress-Spirale rein zu kommen. Ich spreche da gerne von den "5 R", mit denen es sinnvoll ist, sich auseinander zu setzen im Sinne einer bewussten Lebensgestaltung und Stress-Prävention:

  • Rhythmus - was sind meine Rhythmen, die mir gut tun? (Schlaf, Ernährung, Bewegung, Freizeit)
  • Rituale - welche Rituale geben mir Halt, um den täglichen Herausforderungen gewachsen zu sein und nicht in die Überforderung zu kippen?
  • Reduktion - was kann ich reduzieren, wo will ich focusieren, um Erschöpfung zu vermeiden?
  • Regeneration - Aus dem Sport ist ja hinlänglich bekannt, dass ohne Regeneration keine Spitzenleistungen erzielbar sind.
  • Reflexion - Wann gibt es bei mir Zeiten, mein Tun und Nichttun, meine Prioritäten zu reflektieren, in Frage zu stellen oder neu zu definieren?

derStandard.at: Wie baut man sich Ressourcen auf beziehungsweise wie erhält man sie?

Wögerbauer: Die Species Homo sapiens ist nicht auf Einzelkämpfer-Dasein gestaltet, sondern mit der Grundfähigkeit und Sehnsucht, Beziehungen zu leben und zu gestalten. Gelebte, lebendige Beziehungen sind ressourcenförderlich. In Beziehung werden wir geboren, in Beziehungen werden wir verletzt, und in Beziehungen können wir auch wieder heilen. Beziehung ermöglicht Wertschätzung, Entwicklung, Lernen, Nähe, Motivation und sicher auch Leistungsfähigkeit.

derStandard.at: Sie verwenden lieber den Begriff "Gesundheitsentwicklung" als "Work-Life-Balance". Warum?

Wögerbauer: Ich habe nichts gegen englische Begriffe. Lieber wär mir schon "Life - Work-Balance" noch lieber " Life-Balance". Warum ich persönlich den Begriff Gesundheitsentwicklung vorziehe ist mein Menschenbild, dass wir von Geburt an in einem ständigen Entwicklungsprozess sind. Und wenn ich von Gesundheitsentwicklung spreche, dann meine ich nicht nur das individuelle Gesundsein, sondern das strukturelle Gesundsein in meinem Hineingeborensein in eine Gesellschaft im Sinne von : Gesundsein ist nicht die Abwesenheit von Problemen, sondern der Mut und die Fähigkeit, mit ihnen umzugehen. (Marietta Türk, derStandard.at, 21.3.2012)