Das Gezeitenkraftwerk bei Seoul ist das größte der Welt. Die von Andritz gelieferten Turbinen nutzen die Meeresströmung.

Foto: Malte E. Kollenberg

Seoul - "Hier kontrollieren wir den Wasserstand", erklärt Kim June-kyou. Er ist der Chef im weltgrößten Gezeitenkraftwerk Sihwa nahe der südkoreanischen Hauptstadt Seoul. Kim und sein kleines Team gehören zur Korea Water Resources Corporation (K-Water), einem öffentlichen Unternehmen, das eigentlich die Sicherstellung der Wasserqualität im Land zur Aufgabe hat. Seit neuestem aber gehört auch die Aufsicht über die Energieerzeugung durch Gezeitenkraft zu den Aufgaben des Unternehmens.

Was so spektakulär klingt, erinnert auf den ersten Blick eher an ein städtisches Wasserwerk als an einen Weltrekordhalter. Die Besonderheit liegt unter der Wasseroberfläche. Gezeitenkraftwerke nutzen die unterschiedlichen Pegelstände bei Ebbe und Flut. Wenn das Wasser in Richtung des tieferen Pegelstandes fließt, treibt es eine Turbine an. Viermal täglich ist so die Stromproduktion möglich.

Koreas Westküste ist prädestiniert für Wasserkraft. Sie verfügt über einen Tidenhub wie nur wenige Meere auf der Welt. Diesen auch zu nutzen, um die hohen Importkosten für Energie zu senken, verfolgt die koreanische Regierung seit 2002. Eigentlich sollten die Arbeiten bereits 2009 abgeschlossen sein, doch erst am 4. August 2011 hat das Kraftwerk offiziell seinen Dienst aufgenommen. Noch immer läuft es im Testbetrieb, das heißt, es wird zwar bereits Energie produziert, aber von den angepeilten 254 Megawatt Leistung ist das Kraftwerk noch weit entfernt. Und an vielen Stellen wird nach wie vor gemalt, ausgebessert und ausprobiert.

Dass Korea ein Gezeitenkraftwerk baut, war trotz günstiger natürlicher Ausgangsbedingungen keineswegs sicher. "Den Damm für ein Kraftwerk neu zu bauen ist mit ungeheuren Kosten und Eingriffen in die Natur verbunden" , erklärt Jang Dae-woon, stellvertretender Manager der Anlage. In diesem Fall soll das Kraftwerk einen früheren Eingriff korrigieren: Der bereits 1994 gebaute Sihwa-Damm erwies sich kurz nach Fertigstellung als ökologische Fehlkonstruktion. Der dahinterliegende Sihwa-See verschlammte, und die Wasserqualität nahm rapide ab. Das Gezeitenkraftwerk, das nun nachträglich in den Damm gebaut wurde, soll jetzt für einen stetigen Frischwasseraustausch sorgen.

Obwohl die Rettungsbemühungen am See erste Erfolge zeigen, wird von der anderen Seite des Dammes inzwischen Kritik am Kraftwerk laut. Die Fischer beklagen schwindenden Fangerfolg. Die Turbinen würden die Strömung des Meeres verändern, weshalb nichts mehr ins Netz ginge. Ob das so stimme, müsse nun eine unabhängige Untersuchung klären, erläutert Jang.

Aber auch ökonomisch bestehen noch einige Herausforderungen. Sihwa ist zwar der theoretischen Kapazität nach das weltgrößte Gezeitenkraftwerk, doch liegt die zurzeit real erzeugte Strommenge noch unter der des " kleinen" Bruders in der Bretagne.

Turbinen von Andritz

Das hat auch einen Grund. "Das Kraftwerk ist sozusagen in der Endabnahme. Alle Maschinen sind in Betrieb, und die letzten Tests sind abzuschließen", erklärt Leopold Losbichler, österreichischer Projektleiter der Firma Andritz. Diese hat die Turbinen, Generatoren und die Steuerung der Anlage geliefert. Im Februar ist der letzte österreichische Ingenieur wieder nach Hause geflogen. Die letzten Tests sind nun abgeschlossen, und das Kraftwerk läuft der Volllast entgegen.

In ein bis zwei Jahren soll die österreichische Technik mit den koreanischen Gezeiten so abgestimmt sein, dass das Kraftwerk in der Gewinnzone liegt. Bis dahin dürften dann auch die Bauarbeiten an dem Gesamtkomplex endgültig abgeschlossen sein. Bisher ist die vielversprechende Zukunft des Areals, das einmal eine Raststätte, eine Parkanlage und ein großes eigenes Informationszentrum umfassen soll, nur auf Plakaten zu bestaunen. Und hinter den Plakaten fahren noch die Bagger durch den Sand. (Malte E. Kollenberg/Jan Janowski, DER STANDARD, 17./18.3.2012)