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Ein greiser Liftboy (Marcello de Nardo) aus dem Geist Joseph Roths (1894-1936).

Foto: AP/Strauss

Abbild: Der Schauplatz von Joseph Roths Roman Hotel Savoy (1924) enthält die große Welt im Kleinen. In einer vor Schmutz starrenden osteuropäischen Stadt, vermutlich Lodz, stranden die Heimkehrer des Großen Krieges von 1914 bis 1918. Ich-Erzähler Gabriel Dan (im Volkstheater: Dominik Warta) ist ein bis ins Herz unbeteiligter Einzelgänger. Er genießt die Annehmlichkeiten des hoteleigenen Federbettes und schließt Bekanntschaft mit komischen Käuzen. Im Angebot führt das Hotel: einen jüdischen Schläfer, der die Gewinnzahlen von Lotterielosen träumt. Einen rumänischen Souffleur, der Devisengeschäfte abwickelt. Einen todkranken Schausteller mit Esel. Zahlungsunfähige weibliche Gäste, die sich pudelnackt zur Schau stellen müssen.

Boy: Der Liftboy Ignatz (Marcello de Nardo) bildet das Scharnier zwischen den Welten, wobei das siebenstöckige Hotel Savoy die Schöpfungsordnung auf den Kopf stellt. In den ersten drei Stockwerken genießen die Reichen jeden erdenklichen Komfort; in den Etagen fünf bis sieben hausen die armen Schlucker im dicken Dunst ihrer zum Trocknen aufgehängten Wäsche. Ignatz "mit den biergelben Augen" scheint nicht nur über alle Vorgänge im Haus wohlunterrichtet. Er legt die Hotelrechnungen aus und nimmt dafür die Koffer der Reisenden als Pfand.

Henry Bloomfield: Er ist die eigentliche Gottheit eines von allen guten Geistern verlassenen Ortes. Den Selfmade-Millionär führen nostalgische Anwandlungen heim nach Lodz. Nebenbei betätigt er sich als Investor, greift seinen Landsleuten mit Geldmitteln unter die Arme und macht sich um die Einführung der Juxartikelindustrie in Polen verdient. Gabriel Dan verrichtet für ihn Sekretärsarbeiten, ehe Bloomfield ebenso spurlos verschwindet, wie er gekommen ist. Die Stadt, und mit ihr das Hotel Savoy, versinkt in Schutt und Asche.

Industrie: "Industrie ist die härteste Strafe Gottes." (Joseph Roth)

Klassenverhältnisse: In Hotel Savoy trüben noch keine sentimentalen Anwandlungen Joseph Roths Beobachtungsgabe. Er erzählt vom Leid der Heimkehrer, die in Baracken hausen und sich syphilitisch infizieren. Er malt den Kot, der im unaufhörlich niedergehenden Strichregen Morastbäche bildet. Die Tünche der Zivilisation ist hauchdünn. Die Fabrikarbeiter müssen Schweineborsten reinigen und gehen 50-jährig an Lungenblutungen zugrunde. Der bewaffnete Aufruhr ist die logische Folge unzumutbarer Verhältnisse.

Präsens: Roths hartnäckige Verwendung des erzählerischen Präsens übt einen verzaubernden Effekt: Man glaubt sich mitunter in eine heutige Metropole versetzt, durch deren Kapillaren die Migrationsströme der Globalisierungsgesellschaft gepumpt werden. Altmodisch sind höchstens die vor Ort um ihre Privilegien Bangenden. Oder, wie es Gabriel Dans Cousin, ein jüdischer Playboy, ausdrückt: "Wozu hat man diese aufgeregten Zeiten nötig?"

Revolution: Sie erscheint als blindes, naturwüchsiges Geschehen, deren " Bazillus" von den Kriegsheimkehrern in die Stadtgesellschaft eingeschleppt wird. Am Schluss, ehe das Militär die Gewehre durchlädt, schießen die Flammenzungen aus den Dachfenstern des Hotels Savoy heraus. Das Gesicht des Liftknaben Ignatz wird zum letzten Mal sichtbar. Er gibt sich in seiner schmächtigen, frühvergreisten Gestalt als der wahre Hotelbesitzer zu erkennen.

Volkstheater: Die Bühnenfassung für das Wiener Volkstheater hat Koen Tachelet hergestellt: ein Joseph-Roth-erprobter Dramatiker. Regie führt Ingo Berk, das Haus am Weghuberpark mobilisiert sein Ensemble (u. a. mit Susa Meyer und Rainer Frieb). (Ronald Pohl , DER STANDARD, 16.3.2012)