Stefan Schennach: "Eine politische Diskussion tut der OSZE vielleicht einmal ganz gut."

Foto: Bert Eder

Der SPÖ-Bundesrat Stefan Schennach war als Wahlbeobachter des Europarats bei der russischen Präsidentenwahl im Raum Sankt Petersburg im Einsatz. Dass er der offiziellen Einschätzung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), die in jedem dritten Wahllokal Unregelmäßigkeiten festgestellt haben will, widersprach, sorgte für Aufregung. Bert Eder traf ihn in der Parlamentskantine und befragte ihn zu seinen Auslandseinsätzen.

derStandard.at: Ihr Interview, in dem Sie der OSZE-Einschätzung der russischen Präsidentenwahl widersprachen, hat für Aufsehen gesorgt. Üblicherweise geben einzelne Wahlbeobachter keine Stellungnahmen ab, es wird nur ein gemeinsamer Bericht veröffentlicht. Was hat Sie dazu bewogen, in die Öffentlichkeit zu gehen?

Stefan Schennach: Die Diskrepanz zwischen meinen Erlebnissen und dem veröffentlichten Bericht. Ich habe noch in der Wahlnacht mit dem Wahlbeobachtungs-Koordinator des Europarates telefoniert, um herauszufinden, ob weitere Beobachter ähnliche Beobachtungen wie ich protokolliert haben. Auch die Kollegen und Kolleginnen aus dem Europarat, die wie ich im Raum Sankt Petersburg unterwegs waren und mit denen ich am Abend zusammengesessen bin, hatten den gleichen Eindruck: dass nämlich der Wahlsonntag, isoliert betrachtet, erstaunlich fair abgelaufen ist.

Dass es vor der Wahl an Balance und Fairness mangelte, habe ich immer gesagt. Es ging mir auch um Respekt. Russland ist nicht irgendein Land, Europa braucht den Dialog mit Russland. Der Europarat arbeitet seit sieben Jahren an einem Russlandbericht: Wir wollen Russland und auch der Demokratiebewegung in dieser entscheidenden Phase helfen.

Das Gesicht Russlands hat in den letzten Monaten begonnen, sich zu verändern, wobei mir klar bewusst ist, dass man eine Wahl nicht am Wahlsonntag manipulieren muss, um ein gelenktes Ergebnis zu bekommen. Trotzdem war es wohl die fairste und freieste Wahl in der Geschichte Russlands.

derStandard.at: Angesichts der Manipulationsvorwürfe bei früheren Wahlen hat sich die russische Regierung diesmal bemüht, zum Beispiel mit Internet-Kameras in den Wahllokalen Transparenz sicherzustellen. War dieser Versuch erfolgreich?

Schennach: Die Wahl hat sieben Milliarden Rubel gekostet, die Installation der Kameras und der erforderlichen Technik14. Mit dem System, das mit einer Kamera eine Nahaufnahme der Wahlurne und mit einer zweiten eine Totale des Wahllokals zeigt, ist es gelungen, einen korrekten Wahlablauf sicherzustellen. In diesem riesigen Land, das ja eigentlich ein Kontinent ist, mit 95.000 Wahllokalen, kann natürlich trotzdem nicht ausgeschlossen werden, dass es irgendwo in der Tiefe der Tundra zu Unregelmäßigkeiten kommt.

Die kleine Teilrepublik Tschetschenien, die für Russland eigentlich völlig unbedeutend ist, hätte meiner Meinung nach aufgrund der dortigen diktatorischen Verfasstheit eigentlich nicht an der Wahl teilnehmen dürfen. Das Wahlergebnis dort (Putin erreichte 99,76 Prozent, Anm.) als Beleg dafür heranzuziehen, dass die Wahl nicht frei gewesen sei, war mir aber einfach zu viel.

derStandard.at: Die OSZE hat besonders kritisiert, dass die Staatsmedien vor allem über Putin berichtet hätten ...

Schennach: Was für uns Westeuropäer paradox scheint: Im staatlichen Fernsehen ist die Opposition wesentlich mehr zu Wort gekommen als in den privaten Kanälen. Die fürchten nämlich um ihre Lizenzen, was natürlich ein Zeichen für mangelnde Rechtssicherheit ist. Für die Konsumenten und Konsumentinnen des staatlichen Fernsehens war es bei dieser Wahl sicher eine Überraschung, die Oppositionskandidaten zur Primetime im TV zu sehen.

Was für mich völlig neu war: Der Begriff "Stabilität" hat auch für junge Leute in Russland eine viel größere Bedeutung als für uns Westeuropäer. Einer der Hauptkritikpunkte an der Wahl war, dass man vorher wusste, wer Präsident wird. Das war allerdings auch bei der letzten Präsidentenwahl in Österreich so, und auch in Deutschland ist das Ergebnis vorhersehbar.

derStandard.at: Welche Rolle spielt das Internet?

Schennach: Soweit ich gehört habe, haben zwischen 40 und 65 Prozent Zugang. Ein schönes Beispiel ist die Gruppe "Pussy Riot", für deren Freilassung jetzt Unterschriften gesammelt werden. Solche Phänomene kommen natürlich hauptsächlich im städtischen Raum vor. Ich war zum Beispiel in Sankt Petersburg bei der Stimmauszählung in einer Gegend, die etwa dem 7. Wiener Gemeindebezirk entspricht – viele Studenten, Freiberufler, aber auch große Spitäler. In diesem Wahlkreis erreichte Putin 52,5 Prozent, sein Gegner Michail Prochorow kam auf Platz zwei.

derStandard.at: Wie erklären Sie sich das gute Abschneiden Putins dort?

Schennach: Viele Jungwähler, mit denen ich gesprochen habe, erklärten mir, man müsse nicht für Putin sein, um ihm seine Stimme zu geben. Die Gegenkandidaten seien nämlich zu vergessen: ein Altsowjet, ein nationalistischer Clown, ein Oligarch und ein kleiner Putin – da können wir gleich Putin wählen.

derStandard.at: Jabloko-Kandidat Grigori Jawlinski wurde die Kandidatur verweigert ...

Schennach: Ob der Wahlausschluss wegen angeblich gefälschter Unterstützungserklärungen gerechtfertigt war, können wir nicht überprüfen. Solche Missstände gilt es aber auf jeden Fall zu benennen und zu kritisieren. Da fehlt es jedenfalls an Transparenz.

Es gilt jetzt, Leistungen dieser Wahl zu respektieren und sicherzustellen, dass die Demokratisierung weitergeht. Die geplante Senkung der Hürde, um als Partei in die Duma (Russlands Parlament, Anm.) zu kommen, ist zum Beispiel ein wichtiger Schritt. Demokratische Standards, Rechtssicherheit, Korruptionsbekämpfung und Trennung der Staatsgewalten (Stichwort Chodorkowski-Urteil), das sind alles große Fragen.

derStandard.at: Besonders kritisiert wird im OSZE-Bericht die Auszählung der Stimmen. Diese sei in einem Drittel der Wahllokale "schlecht" verlaufen. Was haben Sie beobachtet?

Schennach: Jeder Stimmzettel wird beim Einwurf in die Wahlurne elektronisch gezählt. Zusätzlich tragen sich die Wähler in das Wahlregister ein, und diese beiden Zahlen müssen übereinstimmen.

derStandard.at: Sie haben für die OSZE auch die Präsidentenwahl in Georgien 2008 beobachtet und berichten nun, dass es dort zu massiven Unregelmäßigkeiten gekommen sei. Im OSZE-Bericht wurde Georgien damals attestiert, die Wahl sei in 93 Prozent der Lokale korrekt verlaufen.

Schennach: Es hat uns damals sehr verwundert, dass der damalige Missionschef der OSZE am Montag um 9 Uhr morgens diese Stellungnahme veröffentlichte, während wir noch an unseren Berichten schrieben. Ich hatte das Gefühl, 24 Stunden für den Reißwolf gearbeitet zu haben.

derStandard.at: Warum haben Sie nicht schon damals protestiert?

Schennach: Ich war im Auftrag der OSZE dort. Unsere Berichte haben den Wahlbetrug eindeutig dokumentiert. Ich war damals noch jünger, hatte weniger Erfahrung als Wahlbeobachter und wollte nicht in einen extremen Konflikt geraten. Dass es eine Anzahl kleinerer Vorkommnisse im ganzen Land verteilt gab, habe ich sehr wohl erwähnt.

derStandard.at: Glauben Sie, dass die OSZE Sie nach Ihrer Kritik nochmals als Wahlbeobachter nominieren wird?

Schennach: Davon gehe ich aus, schließlich bin ich Senior Observer. Ich möchte bei dieser Gelegenheit festhalten, dass die Missionen der OSZE höchst wichtig sind. Eine politische Diskussion tut der OSZE aber vielleicht einmal ganz gut.

derStandard.at: Die georgische Regierung muss sich im Oktober Wahlen stellen. Rechnen Sie damit, dass Präsident Saakaschwilis "Vereinte Nationale Bewegung" ihre Mehrheit halten kann?

Schennach: Wenn es eine freie Wahl wird, wird er große Probleme haben, das zu schaffen. Saakaschwili hat das Land schließlich in einen abenteuerlichen Krieg geführt. Ich habe damals abchasische und südossetische Flüchtlinge in Camps besucht, deren Situation erbärmlich war.

derStandard.at: Vielen Mitgliedern der georgischen Opposition wird vorgeworfen, zuerst auf das Saakaschwili-Ticket gesetzt zu haben und sich erst viel zu spät von ihm distanziert zu haben, was ihrer Glaubwürdigkeit schadet ...

Schennach: Saakaschwilis Apparat ist sicher sehr stark. Die Frage ist, ob die Opposition die Möglichkeiten erhalten und die Zeit vor der Wahl genutzt hat, eine entsprechende Gegenstruktur zu bilden. Das wäre auch in Russland sehr wichtig gewesen. Man kann sich ja schlecht darüber beklagen, dass es zu wenige ernstzunehmende Gegenkandidaten gibt, wenn die Spielregeln für die Kandidatur nicht erfüllt sind.

derStandard.at: Sehen Sie im Menschenrechtsbereich Fortschritte in Georgien?

Schennach: In homöopathischen Dosen. Letztlich sind Zivilgesellschaft und Parteienlandschaft gefordert, einen demokratischen Wandel herbeizuführen. (Bert Eder, derStandard.at, 19.3.2012)